Im Netz des Teufels
mit alten Akten im Wandschrank.
Es war 13.46 Uhr.
Er schloss das Diskettenlaufwerk an und schob die Diskette hinein. Der Rechner bootete viel schneller als der in Viktor Harkovs Wohnung. Sekunden später schaute er auf die Tabelle. Es waren sechs Zeilen und acht Spalten. Wie erwartet lauteten die Überschriften: Vorname, Nachname, Adresse etc. Über der letzten Spalte stand ein A . Michael nahm an, dass es »Adoptivkind« bedeutete. Als sein Blick über diese Spalte wanderte, sah er, dass zwischen W und M unterschieden wurde. Zwei Einträge sprangen ihm ins Auge. Ein Eintrag für ein Paar in Putnam County und ein Eintrag für Michael und Abigail Roman. Bei beiden war in der letzten Spalte 2W eingetragen.
Zwei Mädchen. Zwillinge.
Ein weiteres Ehepaar hatte 2005 über Viktors Büro Zwillinge adoptiert. Michael klickte auf das Druckersymbol. Sekunden später hatte er einen Ausdruck der Datei.
Um 13.49 Uhr klopfte es an seine Tür, und dann rüttelte jemand an der Klinke. Michael warf die Diskette aus und zog sie heraus. Er nahm sie in die andere Hand und riss die Schutzblende ab. Dann nahm er eine Schere vom Schreibtisch, zerschnitt die Diskette in drei Teile, um sie unwiderruflich zu zerstören, und warf sie in den Papierkorb. Es klopfte wieder.
»Moment«, rief Michael.
Er legte die Schere in die Schublade, schaltete den Computer aus, stand auf und öffnete die Tür.
Es war Nicole Lanier, seine unermüdliche, stets überarbeitete Anwaltsgehilfin. Nicole war eine zierliche, schlanke Frau um die vierzig, die schon eine halbe Ewigkeit bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Ihre Bewegungen erinnerten an einen Vogel, aber sie hatte einen Beschützerinstinkt wie eine Bärenmutter. Wenn man keinen Termin hatte, kam man an Nicole Lanier nicht vorbei. Sie musterte Michael erstaunt, der noch immer Freizeitkleidung trug. »Okay. Warum war die Tür verschlossen?«
»Soll ich mein Crack auf dem Flur rauchen?«
»Warum nicht?«, erwiderte Nicole. »Das machen wir doch alle.« Sie schaute auf die Uhr. »Hm, müssten Sie nicht schon im Gerichtssaal sein?«
»Ich bin gleich so weit.« Michael zog den Blouson aus und entfernte die Schutzfolie der Reinigung, die über dem Anzug hing. »Bin spät dran.«
»Soll ich drüben anrufen?«
»Nein, das schaff ich noch.«
»Sie sehen aber ganz schön geschafft aus.«
»Sie sind heute wieder reizend zu mir.« Michael reichte Nicole die Aktentasche. »Wenn Sie das nur schnell für mich sortieren würden. Entwurf oben drauf. Ich zieh mich um, und in zwei Minuten bin ich startklar.«
Nicole nahm die Aktentasche entgegen, bewegte sich aber nicht von der Stelle. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Nicole.«
»Okay, okay, Boss.« Nicole umklammerte die Aktentasche, schickte sich aber noch immer nicht an, das Büro zu verlassen.
»Wenn Sie jetzt nicht gehen, sehen Sie mich gleich nackt.«
»Besser, als durchs Schlüsselloch zu gucken.«
Michael schob sie hinaus. Nicole blinzelte ihm zu, drehte sich auf ihren hohen Absätzen um und schloss die Tür.
Michael atmete tief ein und schaute sich im Büro um. Alles war da, wo es sein sollte: der Schreibtisch, die Bücherschränke, der kleine Kühlschrank, die gerahmten Zeitungsartikel an der Wand und sogar das DIN-A4-Foto von ihm und Tommy am Ground Zero, das am 13. September 2001 aufgenommen worden war. Alles war so wie immer, doch plötzlich sah alles ganz anders aus, als wäre er ein Fremder in seinem Büro, das er so gut kannte. Es kam ihm fast so vor, als wären die behaglichen, abgenutzten Dinge, die sein Leben ausmachten, nun durch Duplikate ersetzt worden.
Konzentriere dich, Michael .
Ja, durch Viktor Harkovs Mord änderte sich alles. Ja, es war gut möglich, dass der Staat New York aufdeckte, dass bei der Adoption seiner Töchter nicht alles ganz legal zugegangen war, und dass der Staat Schritte einleitete, um ihm die Mädchen wegzunehmen. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass der Staat New York – und vor allem ein Mädchen namens Falynn Harris – sich heute auf ihn verlassen würde.
Michael zog das T-Shirt, die Jeans und die Sneakers aus und die Anzughose und das weiße Hemd an. Anschließend band er die neue Krawatte von Abby, die sie ihm geschenkt hatte, um ihm Glück bei dem Prozess zu wünschen. Jetzt kam es ihm so vor, als wäre das alles Wochen her. In Windeseile zog Michael das Jackett an, strich sich das Haar glatt und warf einen Blick in den Spiegel. Besser ging es auf die Schnelle nicht. Er öffnete die
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