Im Netz des Verbrechens
sie bloß so wie ihre Freundin ›nicht schlafen‹ könnte, wäre sie schon zufrieden. »Alles gut. In der letzten Zeit dauert es bei mir ein wenig, bis ich die Gedanken abschalten kann.«
»Es ist wegen deiner Mama, stimmt’s? Das Album weckt Erinnerungen. Dein Vater hätte die Hinweise woanders verstecken sollen.«
Mama . In den letzten Tagen hatte Juna es erfolgreich vermieden, an sie zu denken, an ihre Gute-Nacht-Küsse und die Geborgenheit, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, als sie noch klein gewesen war. Sie drehte sich um und nahm Pyschka in den Arm. Ein wenig Geborgenheit konnte sie auch so haben. Bei ihrer Freundin. Oder wenn Nick sie manchmal zu sich heranzog und ihr ein behutsames Küsschen auf die Nase gab.
»Ist es schwer für dich?« Pyschkas frischer Zahnpasta-Atem strich ihr über die Wange.
»Was?«
»Nicht zu wissen, was ihr widerfahren ist.«
»Vielleicht ist sie schon lange tot.« Sie rutschte näher und erntete ein empörtes ›Ai!‹, als sie sich auf eine der Locken gelegt haben musste. Es tat gut, neben einem vertrauten Menschen zu liegen und sich so sicher zu fühlen.
»Meinst du wirklich, dass sie tot ist?«
Die Äste des Baums wogten unruhig hin und her. Wenn sie ihnen lang genug zusah, glaubte sie, die Schattenzweige würden sich gleich von den Wänden lösen, um nach ihr zu greifen.
»Ist es nicht seltsam? Ich habe genau gewusst, wer mein Vater ist. Dass er viel Geld und viel Macht hat. Dass andere Leute, die nicht weniger Geld und Macht haben, ihn gerne aus dem Weg räumen würden. Über meine Mutter weiß ich fast gar nichts.«
»Woran erinnerst du dich?«
An die Narbe, die aussah wie eine Eisblume. An das blaugraue, silberne Kleid, das ihre Oma erweitern musste. An einen Ausflug nach Karelien, ihre Eltern, spazierend Hand in Hand am Ufer eines Sees. Auf dem Weg zurück hatte sie sich übergeben, direkt auf die Ledersitze von Kornejs schickem Wagen.
»Da ist kaum etwas, woran ich mich erinnern kann. Alles sehr verschwommen, dabei war ich kein Kleinkind mehr, als sie verschwunden ist. Sie musste viel arbeiten, hat meine Oma immer gesagt.«
»Aber was genau ist kurz vor eurem Umzug passiert? Hast du etwas mitbekommen? Irgendetwas?«
Sie vergrub das Gesicht in Pyschkas Haar. »Die von der Miliz wollten damals dasselbe wissen.«
Ihre Freundin drückte sie fester an sich. »Du hast noch nie darüber gesprochen. Was haben die bloß mit dir gemacht? Man hört so … Schreckliches darüber.« Diese klare, helle Stimme war ganz leise geworden. Schreckliches hatte Pyschka wohl am eigenen Leib erfahren müssen.
Ja, sie hatte noch nie darüber gesprochen. Über das Gefühl der Ohnmacht, weil andere alles, absolut alles mit einem anstellen konnten.
»Zweimal«, brachte sie endlich hervor.
»Was?«
»Ich durfte zweimal die Bekanntschaft mit den Behörden machen.«
»Was ist passiert?«
»Ich war gerade zwölf geworden, es muss also einige Zeit nach dem Umzug und dem Verschwinden meiner Mutter gewesen sein. Eine neue Schule, keine Freunde – dazu musste ich jeden Tag fünf Haltestellen mit einem O-Bus fahren. Da haben sie mich abgepasst, an der Bushaltestelle. Ein Lada hielt an, der Milizionär meinte, ich soll einsteigen – meine Oma hätte einen Unfall gehabt. Er war nett, hat mich über meine Eltern ausgefragt, ist mit mir ein Eis essen gegangen. Ich musste über Nacht auf dem Revier bleiben, und er hat mich immer wieder nach meinen Eltern gefragt. Meinte, es wurde etwas Wichtiges gestohlen, und ich müsste helfen. Ich wolle doch nicht, dass die Sicherheit des Landes gefährdet wäre. Und so ein Zeug. Ich wusste aber nichts. Erst spät in der Nacht des nächsten Tages tauchte meine Oma auf. Sie brachte mich nach Hause und fragte, was ich der Miliz gesagt habe. Ich meinte: Nichts. Sie nickte nur. Erst später begriff ich, dass die Miliz durch mich vor allem Druck auf Oma machen wollte, damit sie erzählt, was sie weiß. Seit dieser Begebenheit verging kaum ein Tag, an dem sie mir nicht eingetrichtert hätte, wie sehr ich mich vor der Miliz in Acht zu nehmen hätte.« Juna atmete schwer durch. Es war nicht leicht, die Erinnerungen, die sie die ganze Zeit zu verdrängen versuchte, in Worte zu fassen. »Ich habe mich so gefürchtet. Jeden verdammten Tag. Dann irgendwann nach meinem achtzehnten Geburtstag ist es passiert. Ich wurde als Zeugin auf ein Revier geschleppt, sie stellten Fragen, wollten wieder alles über meinen Vater wissen. Es war derselbe Milizionär von damals.
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