Im Netz des Verbrechens
Sie sah es vor sich, wie sie beide in der kleinen Küche gestanden hatten, in der sich das Linoleum wölbte und die klapprigen Fenster die Herbstkälte hereinließen. Vor dem Winter mussten die Fugen mit Zeitungspapier zugeklebt werden, dachte Juna und sagte: ›Paschik hat mich geküsst.‹ Sie dachte auch darüber nach, wann die Stadt endlich die Heizung einschalten würde, es war doch schon fast Ende September, und plötzlich fragte sie sich, wie sie an die undichten Fugen denken konnte, wenn sie gerade davon erzählte, wie ein Mann sie geküsst hatte. ›Ich möchte doch auch ein bisschen Herzklopfen‹, sagte sie, ›einen Stich fühlen, wenn wir uns trennen, diese leichte Schwermut, wenn er nicht da ist …‹ Das konnte doch nicht so schwer sein. Oder? Ihre Oma zuckte die Schultern, meinte nur: ›Mit Herzstichen und Beklemmungsgefühl – da gehe ich doch zum Arzt.‹
Wie recht ihre Oma doch hatte.
Sie rutschte von der Arbeitsplatte. In Tagträumen zu schwelgen, war nicht sonderlich produktiv, schon gar nicht in ihrer Situation.
Festen Schrittes betrat sie das Wohnzimmer, griff nach dem Telefon und überschlug ihre Möglichkeiten. Oleg mit einem Anruf überfallen? Oder lieber abwarten, was er als Nächstes tun würde?
Sie wählte seine private Handynummer, die er ihr einst gegeben hatte, mit der Behauptung, er würde immer rangehen, sollte dieses Telefon klingeln. Damals hatte es ihr sogar ein wenig geschmeichelt, dass sie einem so beschäftigten Mann so wichtig war.
Es meldete sich nur die Mailbox. Sie legte auf. Etwas später versuchte sie es erneut mit demselben Ergebnis. Allem Anschein nach zeichneten sich die Männer in ihrem Leben nicht gerade durch ihre Verlässlichkeit aus. Mit etwas Glück würde der Artikel ein paar Anhaltspunkte mehr liefern. Irgendetwas kam ihr daran suspekt vor, sie wusste nur nicht, was – höchste Zeit, es herauszufinden.
Ihr Zimmer empfing sie mit einem schweren, säuerlichen Geruch – wie gut, dass sie vorhin nicht allzu viel gegessen hatte. Die Quelle dieser exquisiten Note fand sich überraschend schnell. Die Katze hatte vor ihr Bett gekotzt.
Ganz klasse. Das Tier war krank. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Vor allem der Gedanke daran, dass es seine Katze war, dass er die Kleine vermutlich gern hatte, und sie sich nicht verzeihen würde, wenn das Fellknäuel in irgendeiner Ecke verendete, weil sie sich zu fein war, nachzuschauen, ob es ihm gut ging. Und einer Katze, die sich übergeben musste, ging es höchstwahrscheinlich nicht gut.
»Ks-ks-ks, wo bist du?« Sie schaute unter das Bett, ging ins Wohnzimmer, prüfte alle Winkel und spähte sogar unter den Schrank, der zu niedrig war, um ein gemütliches Versteck abzugeben. »Ks-ks-ks. Komm her. Ich will dir nur helfen.« Hatte Nick nicht etwas Ähnliches zu ihr gesagt? Vertrauen aufzubauen war allen Anschein nach eine komplexere Angelegenheit, als sie gedacht hatte. »Ks-ks-ks.« Was fehlte dem Stubentiger nur? Vom Mageninhalt mal abgesehen.
Russisch schien jedenfalls keine geeignete Sprache, um sich bei der Fellnase einzuschmeicheln. Sie versuchte es auf Deutsch: »Komm, komm. Ich tue dir nichts, komm – eh – Süße!«
Die Katze zeigte sich nicht.
Nun gut. Erst einmal die Sauerei aufwischen. Neben der Mikrowelle hatte sie eine Rolle Küchenpapier gesehen. Sie steuerte die Küche an, die Tür war schon in Sichtweite, als ihr ein Etwas mit ausgefahrenen Krallen in den Nacken sprang. Juna schrie auf und taumelte rücklings gegen einen Spiegel, der, an eine Wand gelehnt, auf dem Boden stand. Die Katze machte einen Satz über ihre Schulter und raste ins Wohnzimmer, während Juna die Balance verlor und den Spiegel mit umriss. Einen Wimpernschlag später saß sie inmitten von Scherben. »Dummes Vieh …« – es war immer noch seine Katze, die er höchstwahrscheinlich immer noch gern hatte – »du dummes … Vieh lein .« Im Russischen gab es für jedes Wort eine Verniedlichung. Im Deutschen hörte es sich einfach nur bekloppt an. »Ich will helfen dir. Verstehst du? Helfen!«
Helfen … Andererseits hatte das Tier nicht gerade einen todkranken Eindruck auf sie gemacht. Dafür aber blutete ihr Arm. Bevor sie im Flur alles vollblutete, ging sie ins Bad, säuberte die Wunde und machte sich mit etwas Mull und mehreren Pflastern, die sie im Spiegelschrank gefunden hatte, einen Verband. Dabei hatte sie es wirklich nicht nötig, noch mehr auf Frankensteins Monster zu machen. Ihre Entführer hatten in dieser Hinsicht
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