Im Netz des Verbrechens
sich ihnen in den Weg, die Tirade der Frau entlud sich in ein Crescendo, dazwischen sein zögerndes ›brauchen Sie Hilfe?‹, Nicks ›wir kommen schon klar‹ und ihr eigenes, hastiges ›gut, gut‹.
Das Treppenhaus mündete in eine Gasse, in die von rechts der Lärm des Hauptverkehrs drang. Nick trat als Erster nach draußen. Beunruhigt schaute er umher und dirigierte sie schließlich zur Straße. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, die Umgebung immer genau im Auge zu behalten und auch auf unscheinbare Details zu achten. Jetzt schien ihr Verstand besonders geschärft zu sein und alle, absolut alle Wahrnehmungen zu hinterfragen. Die parkenden Autos – in einem saß jemand und wühlte im Handschuhfach, wühlte noch immer, während Nick sie den Bürgersteig entlang führte. Ein paar Leute warteten an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. Etwas weiter stand ein Mann. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen einen Schildpfeiler. Der Bus kam. Der Mann stieg nicht ein. Vielleicht wartete er einfach auf einen anderen. Vielleicht auch nicht. Nick ging schneller, seine Haltung verriet einen Profi in Sachen Personenschutz.
Sein Renault parkte einen Block weiter. Im Auto roch es nach kaltem Zigarettenrauch und der müden Seele eines alten Wagens. Schon bald passte sich der Renault dem Autostrom der Hauptstraße an. Alles war in bester Ordnung – niemand bretterte mit 100 Sachen durch den Verkehr, die Fahrbahnen trugen deutliche Markierungen, und an den Zebrastreifen wurde brav angehalten. Auch für nur eine Person, die hierzulande anscheinend nicht auf Verstärkung zu warten brauchte, um mit purer Massengewalt den Autostrom zu unterbrechen.
Juna entspannte sich etwas. Zu früh.
»Du sprichst also Deutsch.«
Das Thema war noch nicht vorbei. Rasch senkte sie den Blick auf ihre Hände, die sie brav im Schoß zusammengelegt hatte. Die Brave-Mädchen-Nummer konnte nie schaden.
»Und? Haben dich meine Bemühungen mit dem Wörterbuch amüsiert?«
»Ein … bisschen.« Sie räusperte sich und schob schnell hinterher: »Ein bisschen Deutsch. Ich habe gelernt in der Schule mit erweitertem Deutschunterricht.« Sie zögerte. »Weiß Oleg, dass ich bin bei dir? Sage mir alles! Bitte.«
Die Ampel vor ihnen schaltete auf Rot. Würde sie ihm im Gegenzug auch alles sagen müssen? Würde sie ihn anlügen? Sie war es nicht gewohnt, jemandem zu vertrauen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es klug war, auch nur darüber nachzudenken.
»Oleg ist tot«, sagte er endlich.
»Tot?«, hauchte sie hervor. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie starrte vor sich hin. Das rote Licht der Ampel verflüssigte sich langsam vor ihrem Blick. »Tot.«
»Er ist ermordet worden, um genau zu sein.«
Das Auto setzte sich wieder in Bewegung.
Sie rang um Worte. »Du bist …«
»Sicher? Ja, ich bin mir sicher. Sehr sogar.«
Am Wegesrand huschten Narzissen vorbei, ein Meer aus Gelb-Weiß und Weiß-Gelb. Warum hatte sie noch niemand gepflückt? Mochten die Leute hier keine Narzissen? Diese großen Blüten, wie aus einem Blumenladen.
»Wie … was ist passiert mit ihm?«, hörte sie sich fragen.
»Oleg hat nicht auf eigene Faust gehandelt.« Seine Stimme klang ruhig, sehr klar, doch genau diese Ruhe war es, die ihr eine Gänsehaut bescherte. »Für irgendjemanden bist du von sehr hohem Wert. Und nein, ich weiß auch noch nicht, um was genau es hier geht. Aber ich will es herausfinden.«
»Oleg hat entführt mich?«
Sein Gesichtsausdruck wirkte verloren . Hatte jemand sterben müssen, der ihm nahe stand? Diese Céline?
Sie ballte die Hände. »Wo ist Pyschka?«
»Wer?«
»Mädchen, die Oleg hat entführt auch? In Russland. Meine Freundin.« Ihr Mund fühlte sich trocken an. Auf der Zunge schmeckte sie denselben Belag wie damals, beim Aufwachen in der Baracke. »Ich suche sie. Ein bisschen kleiner, so ungefähr, blond, viele Locken. Wo ist sie?«
»Ich kenne keine Pyschka.«
»Und Oleg?«
»Oleg musste sterben, weil du ihm entwischt bist. Und ich will wissen, was genau hier los ist. Sein Boss lässt seine Leute nach dir suchen. Ich weiß nicht, was die von dir wollen. Ich habe gehofft, du wirst es mir sagen. Nastojaschtschaja kro wj ? Was bedeutet das?«
»Richtiges Blut«, übersetzte sie mechanisch. Es machte keinen Sinn, ihm vorzumachen, sie hätte die Nachricht auf dem Kranich nicht gelesen.
»Das weiß ich inzwischen. Ich meine, was verbirgt sich dahinter? Wurde es vielleicht erwähnt, von Oleg? Von den anderen Typen im
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