Im Netz des Verbrechens
ihr Gesicht gestreift hatte: »Du hast eine unglaublich zarte Haut, es wäre so schade, sie kaputtzumachen; sei brav und dir passiert nichts.« Sie sammelte ihre Gedanken und ging erneut ihre letzten Erinnerungen durch, bevor sie in dieser Baracke zu Bewusstsein gekommen war. Alles schien so weit entfernt zu sein – wie ein fremdes Leben.
Da war Oleg und der goldene Drache über ihnen. Und der Geschmack von Wein auf der Zunge. Und jemand anderes. Sie sah wieder diese Augen, das Gesicht, das sich zu ihr hinabbeugte. Ihr Körper war schwer und schlaff gewesen, und sie hatte das Bewusstsein verloren … geborgen in seinen Armen.
Geborgen. Na sicher. Sie war mit sonstwas vollgepumpt gewesen.
Oleg.
Die Unruhe, der Widerwille, bei ihm zu sein. Etwas hatte mit seiner Geschichte nicht gestimmt, mit all dem ›Ich will dich‹-Gerede und dem ›Ich mache mir solche Sorgen um dich‹-Schwachsinn.
Er musste etwas in ihren Wein gemischt haben. War er ihr nach Deutschland gefolgt, um sicherzustellen, dass ihre Suche erfolglos verlief? Immer wieder spielte sie die Szene in ihren Gedanken nach, suchte nach Ungereimtheiten, nach etwas Verdächtigem – hätte er die allererste Begegnung mit ihm provozieren können? Aber in Wahrheit waren Pyschka und sie ihm fast ins Auto gelaufen. Er hatte scharf abbremsen müssen und war sogleich ausgestiegen, um sich zu erkundigen, ob es ihnen gut ging. Ihnen ging es ausgezeichnet. Pyschka hatte bloß wie so oft in Tagträumen geschwelgt, und sie selbst war gedanklich noch zu sehr im Seminar von Lev Ioffe versunken, das den wohlklingenden Namen Superinductors: a novel type of Josephson ladders implementing quantum Ising model trug. Sie hätte stattdessen lieber nach links und rechts gucken sollen – eine bahnbrechende Erkenntnis, für das sie kein Studium in theoretischer Physik benötigte. Oleg gab sich charmant und hatte ihnen beiden noch ein gemeinsames Kaffeetrinken vorgeschlagen.
Kurze Zeit später erfuhren sie, er wäre ein Model-Scout und suche Mädchen für ein Fotoshooting. Pyschka war sofort Feuer und Flamme und sogar bereit gewesen, sich auf Size Zero herunterzuhungern.
Also Oleg. Hatte ihre Intuition sie nicht betrogen, steckte er dahinter?
Die Schritte hinter der Tür – ihr Gehör registrierte unbewusst jede Veränderung, ihre Sinne schlugen Alarm. Das Schloss rasselte. Einer der Männer trat ein. Es war der, den sie beim Aufwachen als Erstes gesehen hatte, er und sein ruhiges, schon beinahe gütiges Lächeln. Sie hatte ihm in den Unterarm gebissen. Ein Mädchen neben ihr hatte aufgeschrien, vielleicht war es sogar Zdenka, aber er – er hatte nur gelacht. Bevor er ihr so hart ins Gesicht geschlagen hatte, dass es für einige Augenblicke nichts mehr gab, außer einem Wirbel aus hellen Punkten und einer seltsamen Schwerelosigkeit, die sie der Realität zu entreißen drohte. »Hast du Durst, meine Kleine? Nun. Ich bringe dir gerne etwas. Du musst mich nur lieb darum bitten«, hatte er gesagt.
Auch jetzt ragte er über ihr auf und sah sie an, ohne sich zu rühren. Eine Weile schien er die Aussicht zu genießen. Der Geruch seiner Lederjacke und seines Parfüms schwängerte die stickige Luft. Juna schnaubte, als sie spürte, wie sein Blick ihren Körper entlangwanderte. Vor den wehrlosen Frauen zu posieren – dafür war er Mann genug.
Sie atmete weiter, konzentrierte sich auf das Dantian drei Fingerbreit unter ihrem Bauchnabel, um Kraft zu schöpfen. Hier und jetzt – einatmen . Hätte und könnte – ausatmen . Die Angst hatte sie nicht ausgelöscht. Dieser Mann würde sie nicht zerbrechen.
Er kam auf sie zu, und sie fühlte wieder die Finger, die ihre Wangen zusammenquetschten. Sein Fuß stieß den Becher an, der bis zu der Wand klapperte und dort liegen blieb. Der Mann beugte sich über sie. »Dann unterhalten wir uns ein bisschen, nicht wahr?«
Sie hätte ihm ins Gesicht beißen sollen, nicht bloß in den Unterarm – er hatte eine unglaublich markante Nase –, es wäre so schade, sie nicht ein wenig zu korrigieren.
Atmen, Juna, nach innen atmen. Zumindest war ihr Kampfgeist noch da.
Er lächelte kaum merkbar durch die Schatten, die sein Gesicht umhüllten, und schien sich an ihrem Anblick zu laben. »Ich werde dir ein paar Fragen stellen.« Es raschelte, als der Mann sich ein Bonbon in den Mund steckte. Er lutschte gewissenhaft und ein klein wenig gedankenverloren. Bis sein Blick erneut Juna traf – so unverwandt, dass ihr fröstelte. »Und du wirst sie mir
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