Im Palazzo sueßer Geheimnisse
trage, erwarte ich von dir deine gesamte Lebensgeschichte.“
„Abgemacht“, stimmte sie sofort zu. „Aber du wirst sie nicht aufregend finden.“
„Lass mich das beurteilen.“
So klingt ein Mann, dachte Lucy, der zwar ausgebremst worden war, aber dennoch genau das bekommen hatte, was er wollte.
6. KAPITEL
Michele bückte sich und hob Lucy hoch. „Leg die Arme um meinen Nacken.“
Sie gehorchte und verschränkte ihre Hände, um sich davon abzuhalten, damit durch sein dunkles Haar zu streichen.
Er war so schön anzusehen. Aber sein Aussehen war nur ein Teil von ihm. Es war die Persönlichkeit selbst, die Lucy wie ein Magnet anzog, seine Art zu denken, sein Charakter, sein Geist, alles, was ihn zu ihm machte.
Irgendein Dichter hatte gesagt, dass man sich zuerst mit den Augen verliebte, danach mit dem Verstand, schließlich mit dem Herzen. Aber sie hatte es nicht in dieser Reihenfolge getan. Anstatt sich dem Wasser langsam zuzuneigen, vorsichtig hindurchzuwaten und festzustellen, dass es wunderbar war, hatte sie gleich einen Sprung ins kalte Nass gemacht. Jetzt war sie ziemlich überfordert, nicht einmal sicher, ob sie schwimmen konnte, und fühlte sich ebenso ängstlich wie beschwingt.
Den fein würzigen Duft seines Aftershaves in der Nase, bekämpfte sie die wilde Sehnsucht, ihr Gesicht in seinen Nacken zu schmiegen, seine weiche Haut mit ihren Lippen und ihrer Zunge zu berühren.
Er trug sie mühelos, und während sie an seiner Brust lag, erlebte sie ein solches Glücksgefühl, dass ihr der Weg die Treppe hinunter und über den Innenhof viel zu kurz erschien.
Nachdem Michele sie auf der Gartenschaukel abgesetzt, ihre Beine hoch- und ihr ein Kissen in den Rücken gelegt hatte, setzte er sich ihr gegenüber, blinzelte in die Sonne und sagte: „Schieß los.“
„Wo soll ich anfangen? Ich meine, wie weit zurück?“
„Wie weit kannst du dich erinnern?“
„Ich erinnere mich, dass ich zum dritten Geburtstag einen Wackelesel bekam.“
„Faszinierend. Mach weiter.“
„Bist du sicher, dass dich das nicht zu sehr aufregt?“
„Ich denke, ich kann es aushalten.“ Sie nicht aus den Augen lassend fragte er: „Gestern Nacht sagtest du, du wärst Einzelkind …“
Plötzlich war die Unbeschwertheit verflogen. Eine unterschwellige Spannung lag in der Luft …
Normalerweise konnte Lucy munter über ihr Leben plaudern, ihre Gedanken und ihre Gefühle, ihre Hoffnungen und ihre Erwartungen, konnte sogar noch Ausschmückungen hinzufügen, um für mehr Farbe und Spannung zu sorgen.
Jetzt schien sie seltsamerweise nicht willens. Eine innere Stimme flüsterte plötzlich beharrlich, dass Michele etwas Bestimmtes von ihr erwartete. Aber was?
Während Lucy einer kleinen gesprenkelten Eidechse bei ihrem Sonnenbad auf einem Baumstamm zusah, versuchte sie, ihre Befürchtungen zu verdrängen und ihren Teil der Abmachung zu erfüllen.
„Ja, ich war ein Einzelkind. Zwar hatten meine Eltern ursprünglich eine große Familie geplant, aber dann musste ich per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden. Dabei ging etwas schief, denn danach konnte meine Mutter keine weiteren Kinder mehr bekommen.“
Michele lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Warst du nicht einsam ohne Geschwister zum Spielen?“
„Soweit ich mich erinnere, nein. Was du nie gehabt hast, kannst du auch nicht vermissen. Oder du suchst dir einen Ersatz. Sowie ich lesen konnte, habe ich immerzu meine Nase in Bücher gesteckt. Meistens ging es darin um Kunst oder Reisen.“
„Waren dir die Schönen Künste lieber als die Wissenschaft?“
„Von Anfang an.“ Lucy lagerte ihren Fuß bequemer. „Rückblickend hatte ich eine glückliche, behütete Kindheit. Vielleicht ein bisschen zu behütet … Traurig war nur, dass meine Eltern beide früh starben und recht kurz hintereinander.“
Abrupt fragte Michele: „Wie viele Freunde hattest du?“
„Einige.“
„Und was ist mit Liebhabern?“
Es war, als ob sie ein zum Zerreißen gespannter unsichtbarer Draht verbände.
„Was meinst du?“
„Wie viele hattest du?“
„Das hängt davon ab, wie du ‚Liebhaber‘ definierst.“
„Normal. Also, wie viele?“
„Dutzende“, sagte Lucy patzig.
„Und warst du mit ihnen allen verlobt?“, fragte er sanft.
Ihre Lippen öffneten sich, aber sie schwieg. Sie wollte aufstehen und weglaufen: so schnell und so weit wie möglich weg von diesem Mann, der anscheinend darauf erpicht war, sie zu demütigen. Aber sie konnte nicht, und er
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