Im Palazzo sueßer Geheimnisse
kehrte mit einem Wollplaid wieder, mit dem er Lucy zudeckte. „Bei Seenebel können hier in Venedig auch im Sommer die Temperaturen empfindlich fallen“, sagte er noch und verschwand wieder.
Ein Blick zum Fenster bestätigte seine Worte und ließ Lucy noch mehr zittern. Dichter Nebel war aufgekommen und ließ es bedrückend dunkel und still werden.
Sonst hörte man im Hintergrund immer Geräusche brummen, jetzt jedoch schien die ganze Stadt still zu stehen, eingehüllt in eine Nebeldecke.
Irgendwie schien das alles noch schlimmer zu machen. Lucy fühlte sich wie ausgesperrt, verlassen, als wäre ihr nicht mehr zu helfen, und schloss vor Verzweiflung die Augen.
„Hier, trink das.“ Michele stand auf einmal wieder neben ihr und drückte ihr einen Becher mit heißem Tee in die Hand.
„Danke.“ Sie nippte dankbar, und ihr wurde etwas wärmer.
Als sie ausgetrunken hatte, nahm Michele ihr den Becher aus der Hand. „Wenn du nicht doch lieber ins Bett möchtest, kann ich auch das Feuer im Kamin anzünden.“
„Das wäre wunderbar.“
Michele zerknüllte ein paar alte Tageszeitungen, legte sie in den Kamin und schichtete sorgfältig ein paar Holzscheite darüber, die er aus einer Eichentruhe geholt hatte. Dann entzündete er das Papier, und bald knisterte und prasselte das Feuer und verbreitete eine wohlige Wärme. Eine wohlig tröstliche Wärme …
Als Lucy wieder aufwachte, war es schon dunkel, nur die Glut glimmte noch im Kamin. Michele saß in einem der Sessel. Im schummerigen Licht konnte sie erkennen, dass er mit dem Kopf schräg auf der Lehne lag und die Augen wie schlafend geschlossen hatte.
Trotz allem fühlte sie plötzlich eine wilde Zärtlichkeit … als ob er – die spöttischen Augen geschlossen und der harte Mund weich – ein anderer Mann wäre, ein Mann, der ihr nichts mehr übel nahm oder sie verletzen wollte.
„Fühlst du dich besser?“ Michele öffnete die Augen.
Lucy schnellte hoch. „Viel besser, danke …“
„Hungrig?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ach, Unsinn“, widersprach er ihr. „Du hast heute noch nichts gegessen. Ich werde sehen, was ich finden kann.“
Es dauerte nicht lange, und Michele hatte das Feuer im Kamin wieder geschürt und einen kleinen Tisch gedeckt. Schließlich trug er ein Tablett mit einer Terrine heißer Suppe, zwei Tellern, einer Käseplatte und verschiedenen Früchten herein, stellte alles auf den Tisch und füllte die Suppe ein.
Die Minestrone duftete nicht nur lecker – sie schmeckte auch so. Gleich nach dem ersten Löffel stellte Lucy fest, wie hungrig sie war, und aß mit Genuss, bis nichts mehr übrig blieb.
„Hm … war das köstlich.“
Michele lächelte. „Dazu muss ich sagen, dass ich ein sehr guter Dosenöffner bin.“
Nach dem Essen legte Lucy sich wieder hin, wie Michele es ihr geraten hatte. Er räumte das Geschirr ab und brachte zwei Tassen Espresso und zwei Gläser Grappa aus der Küche mit.
Nach außen hin lockerte sich die Atmosphäre, darunter aber war sie zum Zerreißen gespannt. Lucy nippte an ihrem Grappa und bemerkte: „Das Haus muss sehr alt sein.“
Michele nickte. „Vor vielen, vielen Jahren, gehörte es dem ‚Löwen von Venedig‘. Er bezeichnete es als sein Liebesnest, in das er sich mit Lucia zurückzog.“
„Oh?“ Lucy beugte sich fasziniert vor.
„Er war ein Witwer von zweiunddreißig Jahren“, fuhr Michele fort, „als er die neunzehnjährige Lucia Lucchesi traf und sich sofort in sie verliebte. Doch ihre Eltern hatten bereits einen Mann für sie ausgesucht, den sie heiraten sollte. Da die Hochzeit kurz bevorstand, konnten sich mein Namensvetter und seine Angebetete zunächst nur heimlich treffen. Doch durch einen Zufall stellte sich heraus, dass der auserkorene Ehemann gar nicht so ehrenhaft war, wie es schien, sondern ein Doppelleben führte und in finstere Machenschaften verwickelt war.“
„Und so kamen sie doch zusammen?“, fragte Lucy gespannt.
„Ja. Nach langem Hin und Her und Tränen konnte Michele seiner Lucia sechs Monate später seinen Ring, den berühmten Ring des Dogen schenken …“
Lucy wurde starr, als Michele den Ring erwähnte. Er erzählte jedoch weiter: „Ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung heirateten sie.“
„Hatten sie Kinder?“
„Ja, vier Söhne. Die Holzvertäfelungen in den Kinderzimmern im Palazzo Ca’ del Leone wurden für sie mit Motiven aus der Sagenwelt verziert.“
„Sind sie auch so gut erhalten wie diese hier?“, fragte Lucy interessiert und
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