Im Rausch der Freiheit
neben einem Feldgeschütz stand, dessen langes Rohr sanft im Mondlicht glänzte. Im Hintergrund Zelte und ein kleiner verdorrter Baum.
»Bürgerkrieg?«
»Ja. Aber es schien irgendwie nicht so recht in den anderen Raum zu passen. Es ist wohl eher eine persönliche Photographie. Vielleicht hänge ich sie auch wieder ab.«
Der Journalist mit den traurigen Augen nickte, klappte sein Notizbuch zu und steckte es ein.
»Tja, dann wäre ich wohl fertig.«
»Danke. Geben Sie mir Bescheid?«
»Ja. Ich weiß nicht, wie lang der Artikel wird – das hängt vom Chefredakteur ab –, aber ich habe alles, was ich brauche.«
Sie machten sich auf den Weg zum Ausgang.
»Nur aus Interesse, nicht für diesen Artikel – was ist die Geschichte hinter dem kleinen dunklen Bild?«
Theodor schwieg zunächst.
»Tja, es war die Nacht vor einem Gefecht. In Virginia. Unsere Jungs hockten in ihren Schützengräben und die Konföderierten in ihren – gerade mal ein paar Steinwürfe auseinander. Es war völlig still. Wie Sie gesehen haben, beleuchtete der Mond die Szene. In diesen Schützengräben dürften alle Altersstufen vertreten gewesen sein. Männer in den mittleren Jahren und darüber. Und viele, die noch Jungen waren. Im Lager gab es natürlich auch Frauen. Ehefrauen und sonstige.
Ich nahm an, sie würden bald einschlafen. Doch dann fing jemand drüben im Konföderiertengraben an, Dixie, die Kampfeshymne des Südens, zu singen. Bald fielen alle anderen ein, vom einen bis zum anderen Ende des Schützengrabens. Also sangen sie uns eine Zeitlang Dixie vor und hörten dann auf.
Wie Sie sich vorstellen können, hatten unsere Jungs nicht vor, es dabei bewenden zu lassen. Ein paar von ihnen stimmten John Brown’s Body an. Und in null Komma nichts donnerte ihnen unsere ganze Frontlinie das Lied entgegen. Und schöne Stimmen, wie ich sagen darf.
Und als sie damit fertig waren, trat wieder Stille ein. Dann hörten wir aus dem Konföderiertengraben eine einzelne Stimme. Ein junger Bursche, dem Klang nach zu urteilen. Und er stimmte einen Psalm an. Psalm 23 war das. Ich werde es nie vergessen.
Wie Sie wissen, ist im Süden durch die Praxis des ›Shape-note‹-Gesangs jede Gemeinde sehr geübt im Psalmsingen. Und so fielen wie d er alle, entlang der ganzen Front, ein. Irgendwie sanft. Süß und weich. Und vielleicht lag es am Mondlicht, aber ich muss sagen, dass es der wunderschönste Klang war, den ich je gehört habe.
Allerdings hatte ich vergessen, dass auch viele unserer Jungs gewohnt waren, Psalmen zu singen. Wenn man an die lästerlichen Zoten denkt, die man im Feldlager tagtäglich hört, kann man das tatsächlich leicht vergessen; aber es ist so. Und zu meiner Verblüffung fielen jetzt unsere Jungs ebenfalls in den Gesang ein. Und schon bald darauf sangen diese zwei Armeen, vorübergehend aus ihrer erzwungenen Feindschaft herausgehoben, über die ganze Länge der Front miteinander, als seien sie eine einzige Gemeinde von Brüdern im Mondschein. Und dann sangen sie einen anderen Psalm, und danach wieder den dreiundzwanzigsten. Anschließend war es den ganzen Rest der Nacht still.
Und in dieser Stille habe ich dieses Bild aufgenommen.
Am nächsten Morgen begann die Schlacht. Und noch ehe es Mittag wurde, Mr Slim, war in diesen Schützengräben, wie ich leider sagen muss, kaum mehr ein Mann am Leben. Sie hatten sich gegenseitig umgebracht. Tot, Sir, fast bis auf den letzten Mann.«
Und da versagte Theodor Keller die Stimme, und er brachte ein, zwei Minuten lang kein Wort mehr heraus.
DER BLIZZARD
1888
Die drei Männer setzten sich im Delmonico’s an einen Tisch. Frank Master war nervös. Er war höchst überrascht gewesen, als Sean O’Donnell ihn bat, sich mit Gabriel Love zu treffen, und hatte ernsthaft erwogen, nicht zu erscheinen.
Gabriel Love mochte eine bekannte Persönlichkeit sein, aber er und Master verkehrten in unterschiedlichen Kreisen, und Frank verspürte nicht den leisesten Wunsch, mit einem solchen Mann Geschäfte zu machen.
»Kommen Sie einfach und hören Sie ihm zu«, sagte Sean. »Betrachten Sie es als eine persönliche Bitte.« Und so erklärte sich Frank, da er O’Donnell etliche Gefälligkeiten schuldete, schließlich widerstrebend einverstanden.
Zumindest war das Restaurant eine gute Wahl. Das Delmonico’s befand sich früher weiter im Süden der Stadt, jetzt lag es an der Ecke 26th und Fifth Avenue, mit Blick auf Leonard Jeromes altes Stadtpalais, jenseits des Madison Park.
Doch bevor er das
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