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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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man beispielsweise den Sommer in seinem Landhaus verbringen wollte, konnte man einfach die Tür abschließen und abreisen, ohne sich auch nur um jemanden kümmern zu müssen, der während der Abwesenheit das Haus hütete. Schon bald sagten die Leute sogar: »Oh, ich kenne jemanden, der dort wohnt!«
    Mittlerweile in den Fünfzigern hatte Lily de Chantal beschlossen, es mit dem Dakota zu versuchen. Schon bald erklärte sie, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen könne, woanders zu wohnen. Ihr eigenes Haus hatte sie vermietet, ihre Ersparnisse investiert, und damit war es ihr möglich, im Dakota mit ein paar Dienstboten ein ruhiges und angenehmes Leben zu führen. Ihr Lebensstil war umso behaglicher, als Frank Master ihr in aller Diskretion die Hälfte der Miete bezahlte.
    An diesem Nachmittag aber würde sie aufgrund einer schriftlichen Einladung, die sie am Vortag erhalten hatte, nicht mit Frank, sondern mit Hetty Tee trinken. Und verständlicherweise war sie ein wenig nervös.
    Was mochte Hetty von ihr wollen?
    Wenngleich erst Anfang März war es überraschend warm. Als sie an der Südseite des Central Park entlangfuhr, sah sie weite Flächen voll blühender Osterglocken. Erst als sie das obere Ende der Sixth Avenue überquerte, runzelte sie die Stirn.
    Sie hatte sich mit der langen, hässlichen Hochbahntrasse, die sich seit einiger Zeit die Sixth entlangzog, nie anfreunden können. »The El« wurde sie genannt – diese elevated railroad, deren schnaufende, rußende Dampfloks ihre rasselnden Waggons über den Köpfen gewöhnlicher Sterblicher, sieben Meter über dem Straßenniveau, entlangzogen. Weitere Linien verkehrten auf der Second, Third und Ninth Avenue – sie beförderten Unmengen von Fahrgästen, repräsentierten in Lilys Augen aber die hässliche Seite des gewaltigen Fortschritts, den die Stadt erlebte.
    Der Anblick der El war schon bald vergessen, und einen langen Häuerblock weiter, an der Ecke des Parks, bog sie in die Fifth Avenue ein.
    Wenn die Hochbahn der notwendige Motor von New Yorks wachendem Wohlstand war, so entwickelte sich die Fifth Avenue allmählich zu dessen funkelnder Krone. Der Boulevard der Paläste, das Tal der Könige. Sie war erst ein kurzes Stück gefahren, als sie das einst frei stehende Haus der bösen Madame Restell passierte. Die berüchtigte Dame weilte nicht mehr unter den Lebenden, und auf der anderen Straßenseite hatten die Vanderbilts ihre prächtigen Stadthäuser erbaut.
    Sie fuhr an der St.-Patricks-Kathedrale vorbei, die sich in irisch-katholischem Triumph über die Paläste der reichen Protestanten emporschwang.
    Die großen Herrenhäuser waren nach wie vor lediglich fünf Stockwerke hoch; und selbst die größten Geschäftsgebäude mit den gusseisernen Verstrebungen erreichten selten mehr als zehn Geschosse.
    Die Stadt mochte mittlerweile ausufern, bewahrte dabei jedoch ihre Anmut. Und vielleicht weil sie selbst in die Jahre kam, bedeutete das viel für Lily.
    Sie passierte das Reservoir an der 42nd Street. Dann erblickte sie die Herrenhäuser der Astors, und schließlich bog die Kutsche in den Gramercy Park ein.
    Als sie in den Salon geführt wurde, hieß Hetty sie mit einem Lächeln willkommen.
    »Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind, Lily«, sagte sie und forderte ihren Gast mit einer Handbewegung auf, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen.
    Man musste schon zugeben, dachte Lily, dass Hetty Master sich sehr gut gehalten hatte. Ihr Haar war grau. Aber das wäre meines ja auch, dachte Lily, wenn ich nichts unternähme. Ihre Büste war matronenhaft, jedoch nicht übermäßig, und ihr Gesicht noch immer schön. Jeder vernünftige Siebzigjährige hätte stolz sein müssen, eine solche Frau zu haben.
    Aber welcher Mann, gleich welchen Alters, war schließlich vernünftig?
    Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte, dachte Lily, mussten sie sich, sei es in der Oper, sei es bei verschiedenen Empfängen, mehrmals pro Jahr begegnet sein. Und zu all diesen Gelegenheiten benahm Hetty sich ihr gegenüber stets höflich, ja sogar liebenswürdig. Einmal, etwa fünfzehn Jahre zuvor, hatte sie ihr nach einer – natürlich von Frank finanzierten – Soiree sogar einige recht intelligente musikalische Fragen gestellt. Es war ein großes Haus mit einem eigenen Musikzimmer gewesen, also führte Lily sie ans Klavier und zeigte ihr, welche Partien am schwierigsten zu singen waren, und warum. Sie hatten ein recht langes Gespräch geführt, in dessen Verlauf sie den Eindruck gewann,

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