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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Arbeitstischen und Nähmaschinen befanden sich im siebten Stock die Zuschneidetische, unter denen große Kisten standen, die sich schon bald mit Stoffresten füllen würden. Neben einem der Tische zeigte Yetta Anna die Schritte eines neuen Tanzes, der »Turkey Trot« hieß. Sie tanzten beide gern, aber ein strenger Blick vonseiten eines Aufsehers machte dem bald ein Ende, und Anna verließ die Halle und stieg hinauf in den achten Stock, wo sich ihr Arbeitsplatz befand.
    Der Vormittag verlief ereignislos. Nicht lange zuvor war der achte Stock renoviert worden und hatte neue Waschräume und einen schönen Holzfußboden bekommen, auf dem sich die Sonne spiegelte. In der Mittagspause ging Anna nach draußen und vertrat sich die Beine im Washington Square Park. Sie dachte an die Tanzschritte, die ihre Freundin ihr gezeigt hatte, und fragte sich, ob Pasquale wohl gern tanzte.
    Sie hatte nicht lang gebraucht, um von Pasquale zu erfahren. Als Salvatore beiläufig erwähnte, dass sie demnächst im Restaurant möglicherweise einen Freund von ihm treffen würden, war ihr sofort klar, dass er etwas im Schilde führte. Salvatores klägliche Versuche, das zu leugnen, verfingen nicht bei ihr. Als er endlich mit der Wahrheit herausrückte, tat sie so, als sei sie wütend. Sie hütete sich davor, ihrem Bruder zu verraten, dass ihr der junge Mann und seine Blicke schon längst aufgefallen waren und sie überhaupt nichts dagegenhatte, ihn kennenzulernen. Trotzdem teilte sie ihm – bloß um ihn zu ärgern – mit, dass sie nicht wisse, ob sie mitkommen werde. Als sie nach der Pause wieder in die Fabrik zurückkehrte, spielte ein Lächeln um ihre Lippen.
    Der Samstagnachmittag war immer etwas hektisch. Am Ende der Arbeitswoche liefen die Expedienten herum und drängten zur Eile, damit die letzten Bestellungen noch fertig wurden. Kurz vor Feierabend erhielten sie dann die Lohntüten. Bevor die Glocke läutete, durfte man die Halle natürlich nicht verlassen, aber einige der Mädchen, die einen Verehrer hatten, der auf sie wartete, machten sich schon bereit, um möglichst schnell wegzukommen. Als die Glocke ertönte und die Nähmaschinen zentral abgestellt wurden, standen alle auf. Doch Anna hatte es nicht eilig. Sie holte einen kleinen Spiegel aus der Handtasche. Konnte nicht schaden, sich vor der Begegnung mit dem großen Unbekannten noch ein bisschen hübsch zu machen. Ebendieser Aufgabe widmete sie sich, während die Mädchen schon in Richtung Tür strömten. Und sie saß noch auf ihrem Platz, als sie etwas Seltsames hörte. Einen Schrei.
    *
    Vom Garibaldi-Denkmal aus hatte er einen guten Blick über den Washington Place. Im Sommer waren zwar die Baumkronen im Weg, doch als Salvatore jetzt hinüberschaute, konnte er die oberen Geschosse der Fabrik und das an der Ecke des Gebäudes aufgehängte Schild – ein Dreieck in einem Kreis – deutlich erkennen. Er warf einen Blick auf die Uhr, die Paolo ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
    »Es ist Zeit«, sagte er zu Angelo.
    »Bekomme ich von Onkel Luigi auch eine heiße Schokolade?«
    »Bestimmt.« Salvatore sah zur Fabrik hinüber. Jeden Augenblick würden die ersten Mädchen zur Tür herauskommen. Ein junger Mann kam vorbeigeschlendert, hielt einen Augenblick inne und schaute in dieselbe Richtung.
    Gerade in diesem Moment geschah etwas Seltsames. Es ertönte ein leiser Knall aus einem der Fenster des siebten Stockes. Einen Augenblick später drang ein Rauchwölkchen aus dem Fenster, und von der Straße her ertönte ein leises Klirren von Glasscherben. Ein Pferd, das an der Stelle gestanden hatte, schoss mitsamt seinem Wagen davon. Oben begann Rauch aus dem zerbrochenen Fenster zu quellen. Ein Mann lief über die Straße.
    Der Bursche, der vorhin stehen geblieben war, machte sich rasch auf zum Schauplatz des Geschehens und ließ Salvatore und Angelo beim Denkmal zurück. Augenblicke später ertönten Pfiffe von einer Feuerwache her. Dann kam ein berittener Polizist die Straße entlang geklappert, saß ab und rannte in das Gebäude. Menschen ergossen sich auf die Bürgersteige, und jenseits des Parks sah man einen Löschwagen angerasselt kommen.
    »Bleib hier!«, sagte Salvatore zu Angelo. »Wenn Anna kommt, wartet auf mich!«
    Als er das Gebäude erreichte, schaute er zunächst am Haupteingang, dann an der Tür um die Ecke nach. Von Anna war nichts zu sehen. Augenblicke später kam eine Gruppe von Mädchen durch den Vordereingang heraus. Er sprach eins von ihnen an und erfuhr, dass sie

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