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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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einer Droschke Ausschau hielt. »Habe ich dir schon mal gesagt«, fuhr sie dann fort, »dass mein Mann mir genau hier, als gerade das Reservoir fertig geworden war, seinen Heiratsantrag machte?«
    »Ja«, sagte Mary lächelnd.
    »Das war ein wunderschöner Tag«, sagte Hetty.
    »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Mary.
    Dann sagte Hetty plötzlich: »Oh.«
    »Was ist?«, fragte Mary.
    Doch Hetty sagte nichts mehr. Sie taumelte, als habe sie plötzlich einen Schlag bekommen.
    »Geht’s dir nicht gut?«, fragte Mary. Aber sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Hetty zu stürzen begann. Mary versuchte sie festzuhalten, schaffte es aber nicht, und Hetty sank zu Boden.
    Es war ein ziemlicher Zufall, dass gerade in dem Augenblick ein Schuhputzer vorüberging. Er stellte seine Sachen hin und machte sich sofort nützlich, richtete Hetty auf und winkte, während Mary sie stützte, ein Taxi heran, und da Hetty ohne Bewusstsein zu sein schien, half er Mary, sie in die Droschke zu befördern, und fragte sie dann, ob er sie nach Hause begleiten sollte.
    »Ach«, sagte Mary, »das wäre äußerst liebenswürdig!«
    Also legte der Junge seine Sachen in das Taxi, und Mary befahl dem Chauffeur, die Fifth hinunterzufahren, und schon setzte sich der Wagen in Bewegung. Hetty hing die Kinnlade herunter; sie schien zu zittern. Der Junge beugte sich vor und richtete sie, ein wenig befangen, auf, schob sie hoch, in die Ecke der Sitzbank.
    »Gramercy Park«, sagte der Junge zum Fahrer.
    »Woher weißt du das?«, fragte Mary.
    »War schon mal da«, sagte der Junge.
    Und da ging Mary auf, dass sie ihn ebenfalls bereits gesehen hatte.
    »Du bist doch der Bruder des italienischen Mädchens, das vor ein paar Monaten zum Essen da war«, sagte sie. »Deine Schwester arbeitet in der Triangle Factory.«
    Der Junge sagte nichts. Und Mary erinnerte sich an die entsetzliche Tragödie, die sich im März dort ereignet hatte. Dieser schreckliche Brand. Es war ein riesiger Skandal gewesen – hundertvierzig Menschen verloren ihr Leben, größtenteils jüdische Mädchen, die dort gearbeitet hatten.
    »Ich hoffe, deiner Schwester ist nichts passiert«, sagte sie besorgt.
    Im ersten Moment antwortete Salvatore Caruso nicht. Er sah die ältere Frau an. Er erkannte – was Mary noch nicht bemerkt hatte –, dass Hetty Master gerade gestorben war. Mehr schlechte Nachrichten brauchte die reizende Lady für den heutigen Tag nicht.
    »Ihr geht’s gut«, sagte er.

EMPIRE STATE
1917
    Über ein Jahrhundert lang hatten sich die Vereinigten Staaten von Amerika aus den tragischen Konflikten und Torheiten der Alten Welt herausgehalten. Als die Nationen Europas, in ihrem Gewirr von Rivalitäten und Bündnissen verfangen, drei Jahre zuvor den Großen Krieg angefangen hatten, hatten William und Rose Master, wie die meisten vernünftigen Amerikaner auch, gehofft, dass ihr Land sich nicht in diesen sinnlosen Konflikt würde hineinziehen lassen. Und eine Zeitlang hatte es auch so ausgesehen, als würde es ihm tatsächlich gelingen.
    Am Ende war es Deutschland, das Amerika in den Krieg hineinzog. Bis vor Kurzem hatte Präsident Woodrow Wilson es in seinen Bemühungen um Neutralität geschafft, die Deutschen ruhig zu halten. Als eines ihrer Unterseeboote die Lusitania mit amerikanischen Staatsbürgern an Bord versenkte, hatte er protestiert, und das deutsche Oberkommando hatte den uneingeschränkten U-Boot-Krieg eingestellt. Jetzt aber hatte sich alles geändert. Deutschland war, als es sah, dass Russland im Chaos versank und die Briten kurz vorm Verhungern waren, zu dem Schluss gelangt, dass es den Krieg mit einer letzten großen Anstrengung noch für sich entscheiden könnte. Plötzlich waren die deutschen Unterseeboote wieder aktiv geworden. »Da ihr die Briten mit Lebensmitteln beliefert«, teilte Deutschland den US-Präsidenten mit, »werden wir jedes amerikanische Schiff auf See torpedieren.« Damit nicht genug, hatten sich deutsche Diplomaten sogar Mexiko ermuntert: »Greift Amerika an, und wir werden euch helfen, Texas, New Mexiko und Arizona zurückzuerobern!«
    Danach war der Krieg unausweichlich. Die gerade angelaufene amerikanische Mobilmachung würde die Deutschen schon lehren, was es bedeutete, sich mit der freien Nation jenseits des Atlantiks anzulegen. Erst letzte Woche waren William und Rose die Fifth hinunter zum Washington Square Park gefahren, um das große Feuer zu sehen, in dem einige unternehmungslustige junge Leute den deutschen Kaiser in effigie

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