Im Rausch der Freiheit
Durch den Wassernebel aus den Schläuchen und den Rauch war es aber schwierig, etwas zu erkennen. Er winkte. Ebenso der kleine Angelo neben ihm. Doch Anna winkte nicht zurück.
»Winken wir Anna zu?«, fragte Angelo. »Kannst du sie sehen?«
Salvatore gab keine Antwort. Eines der Mädchen war gesprungen. Der junge Mann sprang hinterher. Dann Anna.
Angelo sah es nicht.
»Warte hier!«, rief Salvatore und rannte auf das Gebäude zu.
Die Netze nützten natürlich nichts. Die Feuerwehrleute hatten sie nur als allerletzten Ausweg ausgespannt. Als Salvatore angerannt kam, befahl der Brandmeister seinen Leuten gerade, sie wieder zu entfernen.
Der junge Mann, der gesprungen war, hatte das Netz glatt durchschlagen. Anna und die anderen Mädchen nach ihr waren praktisch ungebremst auf dem Bürgersteig aufgeprallt. Erstaunlicherweise sah Annas Gesicht so gut wie unversehrt aus, während ihr Hinterkopf vollkommen zerschmettert war. Der Feuerwehrmann brauchte ihm nicht erst zu sagen, dass sie tot war.
»Das ist meine Schwester«, sagte er zu dem Feuerwehrmann und nannte ihm seinen Namen. »Ich muss meinen kleinen Bruder heimbringen, dann komme ich zurück.« Er konnte es selbst kaum glauben, wie gefasst er war.
Er kehrte zum Denkmal zurück.
»Ist Anna gesprungen?«, fragte Angelo.
»Ja. Es geht ihr gut, aber sie hat sich am Bein wehgetan, deswegen bringen sie sie vielleicht ins Krankenhaus. Sie hat zu mir gesagt, ich soll dich nach Haus bringen und es Mamma erzählen. Dann gehen wir sie später alle besuchen.«
»Ich will sie jetzt sehen.«
»Nein, sie hat gesagt, wir sollten direkt nach Hause.«
»Bist du sicher, dass es ihr gut geht?«
»Es ist alles in Ordnung.«
*
Am 23. Mai 1911 besuchte kein Geringerer als der Präsident der Vereinigten Staaten, William Howard Taft New York, um an einer wichtigen Zeremonie teilzunehmen. Auf der Stätte des alten festungsartigen Reservoirs öffnete die große Bibliothek an der Fifth Avenue endlich ihre Pforten.
Die Sammlung – aus der Zusammenführung der Astor- und der Lenox-Bibliothek entstanden – war riesig. Das durch Schenkungen von Watts und Tilden mitfinanzierte, von Carrère & Hastings entworfene herrliche Beaux-Arts-Gebäude erstreckte sich über zwei Blocks von der 40th bis zur 42nd Street. Die Bauzeit mochte sich elend lang hingezogen haben, aber das Ergebnis war das Warten allemal wert. Die marmorverkleidete Fassade und die von zwei Löwen flankierte breite Treppe hätten kaum prächtiger sein können, und dennoch wirkte das Gebäude zugleich einladend. Dank einer riesigen Spende von Andrew Carnegie gehörte die New York Public Library zu den großzügigsten öffentlichen Einrichtungen der Welt.
Die Bibliothek würde zwar erst am folgenden Tag für den Publikumsverkehr öffnen, doch es herrschte ein ziemliches Gedränge von Reichen und Prominenten, die sich, nachdem Präsident Taft die Honneurs gemacht hatte, im Gebäude umsahen.
Die alte Hetty Master konnte sich nur langsam bewegen.
»Ich bin sehr froh«, sagte sie zu Mary O’Donnell, »dass du mich bei dem Rundgang begleitest.«
Während des vergangenen Jahres hatte Hetty ziemlich stark abgebaut, was bei ihrem Alter nicht weiter verwundern konnte. Während sie aber durch die große marmorne Eingangshalle schritten, bestand sie darauf, die Treppe hinaufzusteigen.
»Es sind zwei Stockwerke«, warnte Mary sie. Und es waren entsetzlich hohe Stockwerke.
»Ich kann laufen«, beharrte die alte Dame. »Und ich will diesen Lesesaal sehen, von dem alle reden.«
»Ich erinnere mich, wie ich hier war, als direkt dahinter der Crystal Palace stand«, bemerkte sie.
»Ich weiß«, sagte Mary.
Es brauchte seine Zeit, doch schließlich erreichten sie den Lesesaal und waren beeindruckt. Er zog sich endlos hin wie einer der gewaltigen Korridore im Vatikan.
»Nun«, sagte Hetty, »groß ist er zweifellos.«
»Allerdings«, sagte Mary.
»Ich hoffe nur«, sagte Hetty, als sie die Reihen von Tischen betrachtete, »sie finden auch so viele Leute, die lesen wollen. In Bibliotheken schlafe ich immer ein – du nicht?«
»Da verkehre ich eher selten«, gestand Mary.
»Jede Menge Platz zum Schlafen hier drin«, sagte Hetty. »Gehen wir wieder runter.«
Draußen empfing sie ein strahlender Tag, als sie langsam die Treppe zur Fifth Avenue hinunterstiegen.
»Ich bin froh, dass ich das gesehen habe«, sagte Hetty, »aber jetzt möchte ich gern nach Hause. Ich bin ein bisschen müde.« Sie schwieg, während Mary nach
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