Im Rausch der Freiheit
geben. Seine weltgewandt-muntere Art wirkte auf die Leute meist entwaffnend.
»Interessanter Name. Mit dem großen Caruso verwandt?«
»Ich habe ihn kennengelernt«, sagte der Italiener vorsichtig. »Meine Familie und ich haben einmal mit ihm zusammen gegessen.«
»Großer Tenor. Mit einem großen Herzen«, sagte Charlie. Irgendetwas am Verhalten des Italieners ließ vermuten, dass er nicht sonderlich begierig darauf war, sich über seine Familie zu verbreiten. Charlie beschloss, nichts weiter zu sagen. Daher war er überrascht, als Edmund Keller sich plötzlich in das Gespräch einschaltete.
»Ich habe einmal, vor Jahren, ein Mädchen dieses Namens kennengelernt. Anna Caruso. Sie arbeitete in der Triangle Factory.« Er wandte sich zu Charlie. »Ihre Mutter brachte sie zur alten Mrs Master mit, das habe ich Ihnen schon einmal erzählt. Aber sie kam leider bei diesem schrecklichen Brand ums Leben.«
Charlie beobachtete den Italiener. Paolo Carusos Gesicht blieb vollkommen unbewegt, aber er schaute nach unten, ehe er erwiderte: »Das ist ein häufiger italienischer Name.«
»War mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu reden, Mr Caruso«, sagte Charlie. »Wir müssen jetzt leider gehen.« Er lächelte. »Bis zum nächsten Speakeasy.«
Er streckte die Hand aus.
Paolo Caruso schlug flüchtig ein und nickte. Er lächelte nicht.
»Das war peinlich«, sagte Charlie zu Keller, als sie wieder draußen waren.
»Warum?«
»Ich glaube, das Mädchen war eine Angehörige von ihm.«
»Er hat das bestritten.«
»Bestritten hat er es genaugenommen nicht. Ich glaube, er wollte nur nicht darüber reden.« Charlie zuckte die Achseln. »Vielleicht geht auch nur meine Schriftstellerphantasie mit mir durch.« Schriftsteller bildeten sich gern ein, alles hinge miteinander zusammen – als seien alle Menschen in dieser großen Stadt Teile eines einzigen großen Organismus, ihre Existenzen alle miteinander verwoben. Er dachte an den Ausspruch des Dichters, den Priester so gern anführten: »Kein Mensch ist ein Eiland.« Oder den anderen: »Drum frag nicht, für wen die Glocke läutet, sie läutet für dich.« Alberne, sentimentale Hirngespinste höchstwahrscheinlich. Die Realität war ein Scherbenhaufen. »Vergiss es«, sagte er. »Was zum Teufel weiß ich schon?«
*
Paolo Caruso blieb an seinem Platz sitzen. Zunächst dachte er nicht an Anna. Es gab andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit erforderten.
Er dachte kurz über die zwei Männer nach. Als Charlie ihn angesprochen hatte, war sein erster Gedanke gewesen, diese Männer könnten vielleicht Spione sein, mit dem Auftrag, ihn ausfindig zu machen. Aber sie waren eindeutig Oberschicht, nicht seine Welt. Außerdem erinnerte er sich an den Zwischenfall mit Charlies Mutter im Speakeasy. Er verwarf die Idee als idiotisch.
Er war mit zwei Geschäftsfreunden in den Club gekommen. Männern, denen er vertraute. Aber er hatte auch gehofft, Owney Madden sprechen zu können. Er hatte Madden ein paar Jahre zuvor eine kleine Gefälligkeit erwiesen, und er vertraute außerdem seinem Urteil. Vielleicht konnte ihm der Besitzer des Cotton Clubs aus dem Schlamassel helfen. Doch Madden war nicht da, und keiner konnte ihm sagen, ob er an dem Abend noch hereinschauen würde.
Er beschloss, noch eine Weile zu warten. Hier war er wenigstens in Sicherheit. Niemand würde in einem schicken Laden wie dem Cotton Club Ärger anfangen. Und vielleicht kreuzte Madden ja doch noch irgendwann unvermutet auf.
Wenn er letzte Woche bloß die Finger von der Sache gelassen hätte! Sie war nicht Teil seines normalen Aufgabenbereichs gewesen. Seine Bosse wussten davon noch nichts, und wenn sie erst mal Wind davon bekamen, würden sie nicht sonderlich erfreut sein. Er musste auch genau aufpassen, wie er Madden die Sache erklärte. Madden hatte sich als junger Mann durch die Gopher-Gang hochgearbeitet. Mittlerweile betrieb er von Hell’s Kitchen aus, im Hafenbereich der West Side, seinen eigenen Schnapsschmuggel, und es bestand die Möglichkeit, dass er einem Mann, der ohne Erlaubnis Eigeninitiative entwickelt hatte, nicht viel Sympathie entgegenbrachte. Aber er verfügte über weit gestreute Geschäftsinteressen. Vielleicht konnte er außerhalb der Stadt etwas für ihn finden und seine Hand über ihn halten. Es war nur eine schwache Hoffnung, doch immerhin einen Versuch wert.
Es war nicht der erste Auftrag für Paolo gewesen. Dass jemand umgelegt wurde, kam in diesen Kreisen alle naselang vor, aber wenn man als
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