Im Rausch der Freiheit
Angelo aus?«
»Klar.«
»Ich werde in nächster Zeit nicht in die Stadt kommen.«
»Ist das wegen Ihrer Eltern?«
»Meine Eltern sagen, ich darf nicht ohne meine Cousine fahren, und sie hat momentan keine Zeit«, sagte sie. Das klang wie eine Ausrede. »Aber ich würde Sie gern wiedersehen«, fügte sie hinzu.
»Ich melde mich bestimmt«, versprach er.
Bestand doch noch Hoffnung? Er hatte mit Onkel Luigi ein langes Gespräch über seine Finanzen geführt. »Du magst nicht viel haben«, meinte Onkel Luigi, »aber vermehre wenigstens das, was du hast. Investiere deine Ersparnisse in Aktien. Du kannst nichts dabei verlieren. Die Kurse steigen und steigen. Das ganze Land wird von Tag zu Tag reicher.« Er grinste. »Lass dein Boot mit der Flut steigen.« Das klang vernünftig. Aber selbst nach all den Jahren lastete die Erinnerung an die verlorenen Ersparnisse seines Vaters und an Signor Rossi noch immer schwer auf der Seele, und so zögerte er.
Es war ja auch nicht nur eine Frage des Geldes.
»Ihre Familie will einen Mann mit einem eigenen Geschäft für sie«, sagte er zu seinem Onkel, »aber was könnte ich machen – selbst wenn ich das Geld hätte?« Es stimmte schon, er ging einer schweren, körperlich anstrengenden Tätigkeit nach, aber er war kräftig und arbeitete gern im Freien, selbst bei kaltem Wetter. Außerdem hatte man da auch eine gewisse Freiheit. Man tat seine Arbeit, man bekam sein Geld, und dann war man frei. Facharbeiter wie er waren zudem überall gefragt. Er musste sich keine Sorgen machen, die er, das wusste er ganz genau, als selbstständiger Geschäftsmann bestimmt hätte. Er würde den ganzen Tag in einem Büro oder einem Laden hocken, anstatt so arbeiten zu können, wie es sich für einen richtigen Mann gehörte: an der frischen Luft.
Er dachte ein, zwei Wochen lang darüber nach. Am Ende entschied er sich: Wenn das der Preis war, den er für Teresa zahlen musste, dann war er ihm nicht zu hoch. Ob er aber etwas auf die Beine stellen konnte, was ihre Eltern zufriedenstellte, war eine ganz andere Frage.
Ende Oktober wurde Angelo krank. Keiner wusste, was es war. Es fing an wie eine Grippe, doch auch nachdem das Fieber nach zehn Tagen abklang, blieb er weiterhin sehr schwach und hustete ununterbrochen. Onkel Luigi pflegte ihn tagsüber, Salvatore abends. Ende November ließ Salvatore ihre Mutter kommen, und sie entschied sofort, Angelo mit nach Long Island zu nehmen.
Ein paar Tage später rief er Teresa an und erzählte ihr, was passiert war.
»Vielleicht könnte ich ihn besuchen«, schlug sie vor, »wenn Sie meinen, er würde sich über ein bisschen Gesellschaft freuen. Mit dem Fahrrad ist es nicht weit.« Sie schwieg kurz. »Wenn Sie gleichzeitig kämen, könnten wir uns auch sehen.«
Er grinste. Sie hatte eine perfekte Ausrede gefunden, um ihn zu treffen. Er versprach, noch vor Weihnachten zu kommen.
*
Es war ein kalter Dezemberabend, als die zwei irischen Cops vor der Tür standen. Die Nacht davor hatte es geschneit, und an den Straßenrändern lag noch Schnee. Onkel Luigi war im Restaurant. Er wusste, dass er nichts Unrechtes getan hatte, und so war er nicht weiter beunruhigt, als sie sich vorstellten. Dann sagten sie ihm, warum sie gekommen waren, und er rief Salvatore herbei.
Das Leichenschauhaus, zu dem sie Salvatore fuhren, lag oben in Harlem. Im Untergeschoss gab es ein großes, kahles Zimmer. Vielleicht war es da so kalt wegen des Schnees draußen, vielleicht hielten sie es auch immer kalt. Im Raum standen eine ganze Reihe Rolltische, jeweils mit einem Laken zugedeckt. Sie führten ihn zu einem ungefähr in der Mitte der Reihe und streiften das Laken zurück.
Die graue Leiche trug einen Gesellschaftsanzug. Um den Kopf war eine Binde gewickelt, damit der Unterkiefer nicht herunterklappte, und das Gesicht sah recht gut aus. Das weiße Smokinghemd war allerdings mit großen, schwarz gewordenen Blutflecken bedeckt.
»Fünf Kugeln«, sagte der eine Cop. »War bestimmt auf der Stelle tot.« Er sah Salvatore fragend an.
»Ja«, sagte Salvatore. »Das ist mein Bruder Paolo.«
*
Die Familie versammelte sich in der Stadt für die Beerdigung. Auch Nachbarn und Freunde kamen. Der Priester sprach von Paolo taktvoll als einem geliebten Sohn und liebevollen Bruder, der oben in Harlem das Opfer unbekannter Ganoven geworden sei. Jeder von Ihnen kannte die Wahrheit, doch keiner sprach sie aus.
Zum Weihnachtsfest versammelte sich die Familie auf Long Island. Salvatore hatte mit
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