Im Rausch der Freiheit
gewaltige Stahlgerippe des Empire State Building nahezu vollendet. Und das fast zwei Wochen vor dem Zeitplan. Die Maurer hatten Schritt gehalten und nur noch zehn Stockwerke vor sich. Fünfundachtzig Geschosse in nur sechs Monaten ab Baubeginn. Das war eine unglaubliche Leistung!
Der Polier war in freundlicher Stimmung, als Salvatore sich mit einer Bitte an ihn wandte. Durfte sein Bruder Angelo den Tag mit ihm verbringen? »Er ist Künstler«, erklärte Salvatore. »Er möchte uns zeichnen, wie wir am Gebäude arbeiten.«
Der Polier ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Die Baustelle war keineswegs abgesperrt. Dauernd kamen Jungen herauf, um den Arbeitern Wasser zu verkaufen. Photographen hatten Bilder von den Stahlarbeitern gemacht, die auf ihren Trägern am Himmel schwebten. Die Organisatoren schätzten derlei. »Wird ihm auch nichts passieren?«, fragte er.
»Er war früher selber Maurer«, erklärte ihm Salvatore. »Er wird keine Dummheiten machen.« Er grinste. »Er hat sogar erst vor ein paar Minuten ein Porträt von Ihnen gezeichnet!« Er reichte dem Vormann eine Skizze, von Angelo schnell aufs Papier geworfen.
»Hol mich doch der Henker, das bin ja wirklich ich!«, rief der Polier geschmeichelt aus. Und er winkte sie beide durch.
Während sie im Lastenaufzug hinauffuhren, sah er seinen Bruder an. Angelo trug einen Anzug und einen kleinen Homburg. Er sah ebenso gut und zufrieden aus wie an seinem Hochzeitstag. Die einzige Veränderung bestand darin, dass sein Gesicht ein bisschen voller geworden war, und insgesamt umgab ihn die gewisse Aura eines bescheidenen Erfolgs. Offensichtlich gab es so viele Leute, die ihr Haus streichen lassen wollten, dass er genügend Arbeit fand. Außerdem entwarf er für mehrere Transportbetriebe auf Long Island die Signets und lackierte Lastwagen. Es war keine Frage, Angelo hatte Fuß gefasst.
Die neuen Otis-Fahrstühle, die bald die Angestellten zu ihren Büros befördern würden, waren Spezialanfertigungen, die mit der doppelten Geschwindigkeit jedes bisherigen Aufzugs fuhren, aber selbst die Lastenaufzüge hatten ein ganz schönes Tempo drauf. Salvatore war stolz auf das Gebäude und beschrieb während der Fahrt seine vielfältigen Wunder.
»Es ist nur eine Frage von Tagen«, sagte er, »bis sie anfangen, den Dachmast zu bauen.«
Die oberste Büroetage des Empire State Building war um zwei Fuß höher als die äußerste Spitze des Chrysler Building. Aber während Chrysler die Konkurrenz mithilfe seiner frechen, jedoch nutzlosen Zinne aus dem Rennen geschlagen hatte, würde das Empire State mit einem gewaltigen Mast mit mehreren Aussichtsplattformen bekrönt, an dessen Spitze eine Anlegestelle entstehen sollte, an der riesige Luftschiffe festmachen und deren Passagiere an Land gehen konnten. »Das Ganze wird bis Ostern nächstes Jahr fertig sein«, sagte Salvatore.
Im zweiundsiebzigsten Stock stiegen sie aus, und Salvatore ging zur Außenmauer, an der er gerade arbeitete.
Der Bau des Empire State Building war deswegen so rasch vorangeschritten, weil es sich um eine simple Konzeption handelte. Zunächst kam das Skelett aus gigantischen Stahlträgern, um die gesamte Last des Bauwerks aufzunehmen, wobei einige der senkrechten Stahlpfeiler ein Gewicht von zehn Millionen Pfund tragen würden, doch sie hätten weit mehr ausgehalten. Das Gebäude war extrem auf Sicherheit konzipiert. Zwischen den Trägern waren Mauern angebracht, deren einzige Funktion darin bestand, die Kälte draußen zu halten.
Hier bewiesen die Architekten ihr Genie. Die Außenkanten der Stahlträger hatten eine mattgraue Chrom-Nickel-Verkleidung erhalten. Abgesehen davon bestanden die Außenfronten des mächtigen Turms praktisch nur aus folgenden Elementen: zunächst paarweise angebrachten, rechteckigen Metallfensterrahmen; zweitens, ober- und unterhalb der Fenster, je einer Aluminiumplatte; drittens, zwischen jedem Fensterpaar, großen Platten von hellem Kalkstein. So schwang sich die Fassade in reinen, senkrechten Linien von Stein und Metall in die Höhe. Jeder dieser Stein- oder Fenster- »Pfeiler« wurde von einer eleganten gemeißelten Art-déco-Verzierung bekrönt, die mit ihrer vertikalen Ausrichtung das Auge befriedigte und emporhob. Die Fassadenbauer taten also im Prinzip nichts anderes, als den Nietern nach oben zu folgen und gewissermaßen die Rahmen, Aluminiumplatten und Kalksteinblöcke »einzuhängen«.
Und dann gab es noch die Maurer.
»Wir arbeiten von innen nach außen«,
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