Im Rausch der Freiheit
Brüstung abgab. Sie warfen Angelo einen flüchtigen Blick zu, schienen sich aber nicht weiter für ihn zu interessieren. Angelo setzte sich ein paar Fuß rechts von ihnen hin und zog seinen Skizzenblock hervor. Er beugte sich über den Rand, schaute hinunter; irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit. Vielleicht war es der Laufsteg. Nach ein paar Augenblicken fing er an zu zeichnen. Salvatore ging zu einem der senkrechten Träger, der ein paar Yard von ihm entfernt aufragte, und lehnte sich, vor dem Wind geschützt, dagegen.
Die Aussicht war ohne Frage überwältigend. Es war, als lägen alle Reichtümer der Welt zu ihren Füßen ausgebreitet: die menschenwimmelnde Stadt, die fernen Vororte, die geschäftige Wall Street, die breite Bucht und der gewaltige Ozean jenseits davon. Wenn überhaupt ein Ort auf Erden diesen Anspruch erheben konnte, dann war das Empire State Building heute mit Sicherheit der Mittelpunkt des Universums. Das war sie, die Zinne des Tempels der Menschheit. Und er, Salvatore Caruso, stand hier als Zeuge, und sein Bruder hielt das alles in einer Zeichnung fest, die – wer weiß? – noch künftige Generationen betrachten würden. Er sah, wie die Blätter des Skizzenblocks im Wind flatterten.
Angelo schien ihn völlig vergessen zu haben, doch von da, wo er stand, konnte Salvatore das Gesicht seines Bruders deutlich sehen: extrem aufmerksam, konzentriert und schön.
Und urplötzlich, vollkommen unerwartet, wurde er von einem grauenhaften Schmerz, von Eifersucht und dem Gefühl des Verratenseins übermannt – genau wie damals, als er von seinem Bruder und Teresa erfahren hatte. Es traf ihn wie eine Woge. Es kam wie aus dem Nichts und packte ihn, ergriff von ihm Besitz, erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen und Wut. Warum hatte Angelo die Frau geheiratet, die er, sein Bruder, liebte? Warum hatte er, Salvatore, Angelo auch noch die Hälfte seines Geldes geschenkt? Warum hatte Angelo es angenommen? Warum war Angelo der Begabte und Gutaussehende und Vornehme von ihnen beiden? Warum war sein kleiner Bruder etwas, das er nicht war und niemals sein würde?
Wie viele Jahre lang hatte er ihn beschützt! Alles getan, was er für das Richtige hielt und was Anna gewollt hätte. Und Angelo alles gegeben. Was war der Lohn? Überholt zu werden, wie eine bloße Randfigur, wie ein Idiot zurückgelassen zu werden.
Von dieser scheinbaren oder tatsächlichen Erkenntnis überrumpelt konnte Salvatore nicht anders: Er fixierte seinen Bruder voller Hass. Wären sie allein in der Wüste gewesen, hätte er ihn totgeschlagen.
Eine lange Minute lang starrte er, während der Wind heulte, Angelo mordlüstern an.
*
Er spürte die Gefahr, unmittelbar bevor sie zuschlug.
An einem Wolkenkratzer bricht sich der Wind nicht. Er schlingt sich um ihn herum wie eine Schlange. Er atmet ein und aus; er rammt den Kopf unvermittelt durch Öffnungen und schießt auf der anderen Seite wieder hinaus. Er quetscht und windet sich. Er ist gefährlich und unberechenbar. Manchmal hört man, noch bevor man ihn spürt, den plötzlichen Knall einer heftigen Bö, die über die offene Fläche auf einen zustürmt.
Hoch oben auf den unverkleideten Trägern des Empire State konnte ein Windstoß einen Mann glatt von den Füßen fegen.
Als Salvatore von der Bö angefallen wurde, griff er geübt nach der Kante des Trägers und hielt sich fest. Aber es war einige Zeit her, dass sein Bruder zuletzt auf einem hohen Gebäude gearbeitet hatte, und außerdem war er gerade abgelenkt.
Die Bö erreichte Angelo. Sie knallte in den Zeichenblock und riss ihn ihm aus den Händen, schleuderte ihn dreißig Fuß hinaus ins Leere, wo er wie ein Drachen hin und her tanzte. Instinktiv griff Angelo nach seiner Zeichnung, als sie davonflog. Er reckte sich, griff ins Leere, kippte vornüber.
Er verlor das Gleichgewicht.
Salvatore sah es, noch bevor Angelo wusste, was geschah, und er stürzte seinem Bruder hinterher. Er nahm halb bewusst wahr, dass auch die zwei Mohawks links von Angelo eine Bewegung machten, aber seine Aufmerksamkeit war ausschließlich auf sein Ziel gerichtet. Wenn es ihm nur gelänge, das Jackett seines Bruders zu fassen zu bekommen!
Angelo glitt über die Kante. Er schaffte es nicht mehr, sich aufzurichten. Sein schlanker Körper zuckte zurück, seine Hände griffen nach einem Halt. Doch es war zu spät.
Dann plötzlich, gerade als Salvatores ausgestreckte Arme nach vorn flogen, gerade als er ihn hätte berühren können, riss es Angelos Körper
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