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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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erklärte Salvatore. »Zwei Läufe Backstein von acht Zoll Stärke.« Die Backsteinmauerung kam hinter die Kalksteinblöcke und Aluminiumplatten, die sie stützte und isolierte. Doch das Mauerwerk hatte noch eine weitere wichtige Funktion. »Der Backstein schützt die Träger«, erklärte Salvatore. Die gebrannten Ziegel waren nämlich feuerfest, während hohe Hitze selbst Stahlträger in Mitleidenschaft ziehen konnte. Der Backstein umhüllte und schützte sie. »Das Gebäude ist so stabil wie eine Burg, und zusätzlich ist es auch so gut wie hundertprozentig feuersicher.«
    Während Salvatore und seine Kolonne sich an die Arbeit machten, setzte sich Angelo mit seinem Skizzenblock auf einen Stapel Backsteine und fing an zu zeichnen. Weiter oben hätte der ohrenbetäubende Lärm, den die Nieter veranstalteten, es schwierig gemacht, sich zu unterhalten. An manchen Tagen dauerte der Krach, der bis unten auf der Straße zu hören war, von sieben Uhr früh bis neun Uhr abends an. Die Anwohner mussten sich eben damit abfinden.
    Noch während Angelo die Maurer zeichnete, fiel sein Blick auf einen Stoß Aluminiumplatten, die neben dem Lastenaufzug gestapelt lagen. Shreve, Lamb & Harmon, die Architekten des Gebäudes, waren hauptsächlich an der Cornell und Columbia University ausgebildet worden, doch Lamb hatte außerdem die Pariser École des Beaux-Arts besucht. Letztlich aber kamen sie alle aus dem New Yorker Carrère-&-Hastings-Stall und fühlten sich dem französischen Art déco verpflichtet.
    Die Aluminiumplatten waren ein ausgezeichnetes Beispiel für diesen eleganten Stil. Jedes Metallfeld trug die gleiche – auf der Fassade vielhundertfach wiederholte – schlichte Verzierung: stilisierte Art-déco-Blitze, die, ein Stück voneinander entfernt, links und rechts, wie elektrische Schlittschuhspuren senkrecht ins Blau schossen.
    Angelo starrte das Muster konzentriert an und begann es abzuzeichnen.
    Als er seinen Bruder ansah, fiel Salvatore auf, dass sein Gesicht – nur für einen Moment, gerade bevor er anfing zu zeichnen – den gleichen verträumten Ausdruck annahm, den es in seiner Kindheit so oft gezeigt hatte, bis, sobald er sich in seine Arbeit vertiefte, in seinen Augen eine leidenschaftliche, fast schon beängstigende Konzentration sichtbar wurde.
    Onkel Luigi hatte recht behalten. Angelo war ein Künstler. Er gehörte in die Gesellschaft der Männer, die dieses Gebäude entworfen hatten, nicht unter die Maurer.
    Und so machten sie weiter – Angelo zeichnete alle möglichen Dinge, die seine Aufmerksamkeit erregten, und Salvatore mauerte Backsteine mit seiner Kolonne, bis ein schriller Pfeifton die Mittagspause ankündigte.
    Salvatore hatte genug zu essen für sie beide mitgebracht. Er gab seinem Bruder Brot und schnitt die Salami auf. Als sie fertig waren mit Essen, sagte Angelo, sein größter Wunsch sei es, hinauf aufs Dach zu steigen und die Aussicht von dort oben zu genießen.
    Die Nieter hatten fürs Erste die Arbeit eingestellt. Ein seltsamer, ungewohnter Frieden erfüllte die riesige Terrasse aus unverkleideten Trägern, wo als einziges Geräusch das leise Fauchen des Windes zu hören war, das ab und an im Gitterwerk der mächtigen Kräne zu einem Stöhnen anschwoll.
    Hoch oben am Himmel spannte sich ein grausilberner Wolkenschleier, durch den die Sonne, wie eine Stimme hinter den Kulissen, ein Echo von Licht sandte. Voraus jenseits der schlanken Türme auf der Südspitze von Manhattan, dehnte sich die weite Wasserfläche der New Yorker Bucht mit stumpfem Glanz in die Ferne.
    Doch als er sich umsah, bemerkte Salvatore etwas anderes. Kleinere, tiefer hängende Wolken bewegten sich in gegenläufigen Richtungen. Zur Rechten jenseits des Hudson, schienen sie über New Jersey zu zögern, bevor sie sich nach Norden wandten; zur Linken, über Queens, eilten sie schon in Richtung Süden. Schlug der Wind um? Oder hatte er beschlossen, die Stadt zu umkreisen, mit dem großen Turm im Zentrum ihrer strudelnden Welt?
    Unvermittelt klatschte ihm eine Bö auf die Wange und erinnerte ihn daran, dass man hier oben die plötzlichen Wirbel und Strömungen der Luft nie vorhersehen konnte.
    Inzwischen war Angelo zum Südrand der Plattform gegangen, der Seite zur 34th Street. Dort drüben, wusste Salvatore, ging es neun Stockwerke steil hinunter zum Laufsteg der Steinmetze und anschließend weitere fünfundsiebzig hinunter auf die Straße. Zwei Mohawks saßen ruhig auf einem Stahlträger, der dort eine provisorische

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