Im Rausch der Freiheit
Charlie mochte das theaterbezogene Dekor des Lokals, mit den Karikaturen von Schauspielern an den Wänden, von jeher. Vielleicht kamen viele Auswärtige nur deswegen ins Sardís, weil es so berühmt war, doch es machte trotzdem großen Spaß.
Sie bestellten Steaks und Rotwein, und schon bald brauchten sie eine neue Flasche. Sie redeten nicht über die Ausstellung. Charlie erzählte ihr, was er mit seinem Sohn unternommen hatte, und sie unterhielten sich über die Stadt, wie sie in den Dreißigerjahren gewesen war. Er sprach von seiner Bewunderung für Rockefeller und Roosevelt und dem alten Geist von New York.
»Aber Sie dürfen Bürgermeister La Guardia nicht vergessen«, hielt sie dagegen. »Auch er hat New York gerettet.«
»Das ist wohl wahr.« Charlie grinste. »Gott sei für die Italiener gedankt!«
»La Guardia war kein Italiener.«
»Verzeihung – seit wann denn das?«
»Sein Vater war Italiener, seine Mutter Jüdin. Somit war er ebenfalls Jude. Fragen Sie meine Familie.«
»Okay. Was hält Ihre Familie dann von Robert Moses? Er ist von beiden Seiten her Jude.«
»Wir hassen ihn.«
»Er hat für die Stadt viel getan.«
»Das stimmt. Aber meine Tante Ruth wohnt in der Bronx, und seinetwegen ist ihr Grundstück jetzt praktisch nichts mehr wert.« Der Cross Bronx Expressway, den Moses durch diesen Stadtbezirk schlug, erwies sich als das schwierigste Projekt, das der Stadtplaner je in Angriff nahm. Viele Menschen wurden zwangsumgesiedelt, mussten zuschauen, wie der Marktwert ihrer Anwesen in den Keller ging, und schätzten das gar nicht. »Sie sagt, sie hofft, er bricht sich das Genick.« Sie grinste. »Meine Familie hält sehr zusammen. Wir unterstützen sie. Früher oder später wird Moses vernichtet werden.«
»Haben Sie eine große Familie?«
»Eine Schwester, zwei Brüder. Die Angehörigen meiner Mutter sind alle aus New York weggezogen. Tante Ruth ist die Schwester meines Vaters.« Sie schwieg kurz. »Mein Vater hatte auch einen Bruder, Herman, der ebenfalls in New York wohnte. Aber er ist vor dem Krieg nach Europa, und dann …« Sie stockte.
»Ist er nicht zurückgekommen?«
»Wir reden nicht über ihn.«
»Es tut mir leid.«
Sie zuckte die Achseln und wechselte das Thema.
»Ihr Sohn lebt also auf Staten Island. Hat er auch eine Mutter?«
»Ja. Meine Exfrau.«
»Oh. Das geht mich vermutlich nichts an.«
»Ist schon okay. Wir kommen ganz gut miteinander aus.« Er lächelte. »Wissen Sie, als die Galerie sagte, Sie würden die Keller-Ausstellung organisieren, war ich nicht eben begeistert.«
»Was hat Ihre Meinung geändert?«
»Was Sie über Kellers Werk und über Stieglitz sagten. Natürlich«, fügte er hinzu, »muss ich immer noch sehen, ob Sie was können. «
»Tue ich. Und übrigens bin ich eine große Bewunderin von Alfred Stieglitz. Nicht nur wegen seiner eigenen photographischen Arbeiten, sondern auch wegen aller Fremdausstellungen, die er aufgezogen hat. Wussten Sie, dass er eine der ersten Ansel-Adams-Ausstellungen überhaupt in New York organisierte?«
Die Ausstellung von Ansels erstaunlichen großformatigen Landschaftsaufnahmen war für Charlie seinerzeit – 1936, bevor er in den Spanischen Bürgerkrieg zog – der absolute Glanzpunkt des Jahres gewesen.
»Ich habe sie gesehen«, sagte er.
»Ich bewundere ihn auch als Menschen. Ein Mann, den Georgia O’Keeffe heiratet, muss schon etwas Besonderes sein.«
In Charlies Augen waren die Affäre und die anschließende Ehe des Photographen und der großen Malerin – wenngleich recht stürmisch – eine der bedeutendsten Künstlerpartnerschaften des 20. Jahrhunderts gewesen.
»Er war ihr nicht treu«, sagte er.
»Er war Stieglitz.« Sie zuckte die Achseln. »Aber das muss ihm der Neid lassen: Er war fast fünfundfünfzig, als er mit O’Keeffe zusammenzog. Und als er die Sache mit dem anderen Mädchen anfing, war er bereits vierundsechzig.«
»Dorothy Norman. Ich kannte sie.«
»Und sie war erst zweiundzwanzig.«
»Verdammt großer Altersunterschied.«
Sie sah ihn an. »Man ist nur so alt, wie man sich fühlt.«
*
Am Freitagnachmittag fuhr Sarah Adler mit der U-Bahn nach Brooklyn. Sie hatte ein neues Buch zum Lesen dabei. Die Brücken von Toko-Ri, ein Kurzroman von James Michener über den gerade zu Ende gegangenen Koreakrieg. Die Haltestellen rauschten unbemerkt vorbei, bis sie Fiatbush erreichte.
Sarah liebte Brooklyn. Wenn man aus Brooklyn stammte, kam man nie wieder davon los. Zum Teil lag es vielleicht an
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