Im Rausch der Freiheit
konnte, aber ihre Eltern waren nicht religiös, und so machte es ihnen nicht allzu viel aus.
Und dann hatte sie sich durch eine unbedachte Äußerung verraten. An einem Freitag unterhielt sie sich mit einem anderen Mädchen, mit dem sie sich sehr gut verstand. Sie kamen auf einen der Kassierer zu sprechen, einen ständig übellaunigen Kerl, der sich über ihre Freundin beschwert hatte. »Kümmer dich nicht um den schmock« ,sagte sie zu dem Mädchen, »der muss immer über irgendwas stänkern.« Sie hatte das jiddische Wort verwendet, ohne sich etwas dabei zu denken, ja praktisch ohne sich dessen bewusst zu sein; allerdings fiel ihr auf, dass das Mädchen sie merkwürdig anguckte.
»Und wisst ihr was? Ich kann’s nicht beweisen, aber ich bin davon überzeugt, dass das Mädchen mir nach Brooklyn gefolgt ist, bis nach Hause. Denn am nächsten Montagmorgen habe ich gesehen, wie sie mit dem Filialleiter sprach, und am Mittag desselben Tages hat er mich gefeuert. Nur weil ich Jüdin war.«
Das Ereignis hatte das Leben ihrer Mutter verändert. »Danach«, pflegte sie zu erklären, »hieß es für mich: genug von den Gojim. Und ich bin in den Schoß meiner Religion zurückgekehrt.«
Ein Jahr später heiratete sie Daniel Adler.
Diese Erinnerungen wurden allerdings schon bald unterbrochen, als Michael und Nathan zum Frühstück herunterkamen. Sarah half ihrer Mutter, den Tisch zu decken, während ihr Vater weiter im Souterrain Klavier spielte.
Nachdem ihre Brüder aus dem Haus gegangen waren, machten Sarah und ihre Mutter in der Küche Ordnung.
»Und«, fragte ihre Mutter, als sie alles weggeräumt hatten, »bist du immer noch zufrieden mit deiner Wohnung?«
Ihre Mutter hatte es nicht gerade gefreut, als Sarah ihr mitteilte, in die Stadt ziehen zu wollen, aber die Wohnung erwies sich als ein wirklicher Glückstreffer.
Der Bruder eines der Patienten ihres Vaters besaß ein Apartment in Greenwich Village. Er wollte für ein, zwei Jahre nach Kalifornien gehen, er wusste selbst nicht, wie lange. Unter der Bedingung, dass sie die Wohnung, sobald er sie wieder brauchte, unverzüglich räumen würde, hatte er sich bereit erklärt, sie an eine Familie, für deren Vertrauenswürdigkeit sein Bruder sich verbürgte, sehr günstig zu vermieten. Und so war Sarah zu einer hübschen kleinen Zweizimmerwohnung gekommen, die sie sich selbst von dem winzigen Gehalt leisten konnte, das sie in der Galerie bekam.
»Sie ist schön«, sagte sie, »und ich liebe meine Arbeit.«
»Kommst du nächstes Wochenende heim?«
»Ich glaube schon. Warum?«
»Du erinnerst dich, dass ich dir von Tante Adeles Enkel erzählt habe. Dem Jungen, der in Harvard war? Der jetzt Arzt ist?«
»Der, der nach Philadelphia gezogen ist?«
»Ja, jetzt hat er eine Anstellung in New York bekommen. Er zieht gerade dorthin um. Und nächstes Wochenende kommt er raus nach Brooklyn, um seine Großmutter zu besuchen. Ich glaube, er ist sehr nett.«
»Du kennst ihn doch gar nicht.«
»Wenn er Adeles Enkel ist, kann er nur sehr nett sein.«
»Wie alt ist er?«
»Adele sagt, dass er nächstes Jahr dreißig wird. Und er interessiert sich sehr für Kunst. Er hat sich ein Gemälde gekauft.«
»Das weißt du?«
»Adele hat’s mir erzählt. Sie glaubt, dass er sogar mehrere gekauft hat.«
»Was für Gemälde?«
»Woher soll ich das wissen? Gemälde eben.«
»Wir sollten also heiraten.«
»Du könntest ihn kennenlernen.«
»Hat er Geld?«
»Er ist Arzt.« Ihre Mutter ließ das kurz wirken, damit klar wurde, dass damit alles gesagt sei. »Als sein Vater Adeles Tochter heiratete, arbeitete er noch als Buchhalter. Aber die Buchhalterei war nichts für ihn, also begann er einen Heizofenhandel. Inzwischen verkauft er auch Klimaanlagen. In ganz New Jersey. Adele sagt, dass er sich sehr gut gemacht hat.«
Dann hatte Adeles Enkel also Geld. Sarah lächelte. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie ihre Mutter und Adele ihre Fäden spannen. Und warum sollte sie sich darüber beklagen? Vielleicht wäre er genau der Richtige.
»Ich werde ihn kennenlernen«, versprach sie.
*
Als sie an dem Nachmittag in der U-Bahn nach Manhattan saß, kreisten ihre Gedanken allerdings nicht um den Arzt. Sie kreisten um Charlie Master.
Im Sardés hatte sie natürlich mit ihm geflirtet, ihn wegen seines Alters sanft aufgezogen. Und er war interessiert gewesen, darüber bestand für sie gar kein Zweifel. Doch er wirkte gleichzeitig auch vorsichtig, und sie glaubte, den Grund dafür zu
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