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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Fleischtage. Dienstag bedeutete Fisch und Donnerstag Eiersalat und Kartoffellatkes – Reibekuchen. Nur der Montag war variabel.
    Der Rest des Sabbat verlief ruhig. Der Samstagsgottesdienst war immer lang, er dauerte von neun bis zwölf. Früher fand sie das anstrengend, aber jetzt seltsamerweise nicht mehr. Dann kam das gemütliche, entspannte Mittagessen im Kreise der Familie. Anschließend las ihr Vater ihnen allen etwas vor und machte danach ein Nickerchen, während sie und Michael Dame spielten. Sarah und ihr Bruder verbrachten seit jeher gern Zeit miteinander. Michael war musikalisch, und am Sonntagnachmittag würden er und sein Vater zu einem Konzert ins Brooklyn Museum gehen. Bis zum Ende des Sabbat war Fernsehen verboten, doch am Samstagabend fragte ihr Vater sie, ob sie sich eine Schallplatte anhören wollte, die er gekauft hatte. Eine RCA-Aufnahme von Leonard Bernstein, der seine eigene Erste Sinfonie dirigierte. Also setzte sie sich neben ihn auf das Sofa und betrachtete liebevoll sein rundes Gesicht, das sich zu einem Ausdruck vollkommener Seligkeit entspannte. Sie gingen alle früh schlafen. Es war ein wunderschöner Tag gewesen. Als Sarah allerdings Sonntag früh herunterkam, stand ihre Mutter allein in der Küche und briet Arme Ritter. Sie hörte ihren Vater im Souterrain auf dem Klavier phantasieren, aber als sie nach unten gehen wollte, um ihm einen guten Morgen zu wünschen, rief ihre Mutter sie zurück.
    »Dein Vater hat eine schlimme Nacht hinter sich.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat an deinen Onkel Herman gedacht.«
    Sarah seufzte. Im Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebte Onkel Herman in London. Doch er liebte Frankreich, beherrschte die Sprache und hatte dort zeitweilig gewohnt und ein kleines Exportunternehmen betrieben.
    Wenn Onkel Herman ein Jahr lang nichts von sich hören ließ, so wunderte sich niemand. »Er schreibt keine Briefe. Er steht einfach plötzlich vor der Tür«, beklagte sich ihr Vater oft. Aber im Spätherbst 1939 erhielten sie einen Brief. Herman schrieb aus London und kündigte an, er werde nach Frankreich gehen.
    Monate vergingen, ohne dass weitere Nachrichten von ihm kamen. Sie hofften, er sei noch in London. Als das Bombardement Londons begann, sagte ihr Vater: »Vielleicht sollte ich eher hoffen, dass er in Frankreich ist.«
    Das Schweigen hielt an.
    Es dauerte über vier Jahre, bis sie endlich die Wahrheit erfuhren. Es war das einzige Mal gewesen, dass Sarah ihren Vater wirklich empört und untröstlich erlebt hatte.
    Und das erste Mal, dass sie die Macht der Trauer erlebte. Als sie ihren Vater leiden sah, hatte sie, so jung sie auch war, den unbändigen Wunsch verspürt, ihn zu beschützen.
    Und dann taten die Adlers das, was jede jüdische Familie tut, wenn sie einen Angehörigen verliert: »Schiwe sitzen«.
    Es ist ein freundlicher Brauch. Sieben Tage lang kommen Verwandte und Freunde ins Trauerhaus und bringen Speise, Trank und Trost. Nachdem sie beim Eintreten die traditionelle hebräische Trauerformel gesprochen haben, reden die Besucher leise mit den Hinterbliebenen, die auf niedrigen Kisten oder Hockern sitzen.
    Sarahs Mutter hatte alle Spiegel im Haus mit Tüchern verhängt. Die Kinder trugen ein schwarzes Band an der Brust, aber ihr Vater zerriss sein Hemd und setzte sich in eine Ecke. Viele Freunde kamen vorbei; jeder begriff Daniel Adlers Schmerz und versuchte ihn zu trösten. Sarah vergaß das nie.
    »Die Tage des Schiwesitzens für deinen Onkel Herman waren die schlimmsten in meinem ganzen Leben«, sagte ihre Mutter. »Sogar noch schlimmer als der Tag, als ich gefeuert wurde.«
    Der Tag, an dem man sie feuerte, war von jeher ein Topos in den Annalen der Familie gewesen. Er lag lang zurück, weit vor Sarahs Geburt, selbst noch vor der Heirat ihrer Mutter. Sie hatte sich in Manhattan Arbeit gesucht und einen Posten als Sekretärin in einer Bank bekommen. Ihr Vater riet eindringlich davon ab, aber dann packte sie der Ehrgeiz, ihm zu beweisen, dass er im Unrecht sei. Dank ihrer damals noch rötlichen Haare und ihrer blauen Augen kamen die Leute fast nie auf die Idee, sie sei Jüdin. »Und ich heiße Susan Miller«, sagte sie. »Ehemals Millstein«, sagte ihr Vater. Er hätte auch hinzufügen können, dass Miller der dritthäufigste jüdische Name in Amerika war.
    Doch die Bank stellte sie ohne indiskrete Fragen ein, und sechs Monate lang arbeitete sie da und war recht zufrieden. Sicher, das hatte bedeutet, dass sie den Sabbat nicht einhalten

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