Im Rausch der Freiheit
Gemeinschaft an, die sich ihrer dreitausend Jahre weit in die Vergangenheit reichenden Wurzeln bewusst war und zumindest daran glaubte, dass sie das göttliche Feuer aus der Hand des Allmächtigen selbst empfangen hatte.
Als er sich zu später Stunde von Sarah und deren Familie verabschiedete, um nach Manhattan zurückzukehren, war er von einer neuen Hochachtung und Bewunderung erfüllt.
*
Natürlich wartete er nicht lang damit, Sarah nach dem Arzt zu fragen.
»Adele Cohens Enkel? Er ist ein sehr netter Mensch, bloß nicht mein Typ. Doch ich lasse meine Eltern in dem Glauben, ich sei möglicherweise interessiert. Das macht sie glücklich.« Sie sah ihn amüsiert an. »Wenn er mein Typ wäre, dann müsste ich ihn wohl heiraten. Er ist alles, was ein braves jüdisches Mädchen sich nur wünschen könnte.«
Charlie wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Als er später darüber nachdachte und einen Stich Eifersucht verspürte, sagte er sich, er sollte kein Idiot sein. Früher oder später würde Sarah zwangsläufig mit einem anständigen jungen Mann ihres Glaubens eine Familie gründen. Aber bitte eher später als früher. Viel später. Bis dahin wollte er sie ganz für sich allein haben.
Der Seder hatte auch weitere Auswirkungen. Charlie begann Sarah Fragen zu stellen. Einige davon waren ganz einfach. »Warum sagst du ›Synagoge‹, während die meisten anderen Juden, die ich kenne, ›Tempel‹ sagen?«
»Das hängt einfach davon ab, was für eine Art Jude man ist«, erklärte sie. »Der eigentliche Tempel, der Tempel in Jerusalem, wurde vor fast zweitausend Jahren zerstört. Die orthodoxen und die konservativen Juden glauben, dass er eines Tages wiederaufgebaut wird. Das wäre dann der Dritte Tempel. Aber die Reformjuden sagen, dass man nicht darauf warten sollte, dass das geschieht, und deswegen nennen sie ihre Synagogen ›Tempel‹. So gibt es in der Diaspora alle möglichen Bezeichnungen für die Synagoge. Die orthodoxen Juden benutzen dafür häufig das jiddische Wort schul. Meine Familie sagt in der Regel Synagoge. Die Reformjuden meistens Tempel.«
Andere Fragen waren intimerer Natur. Wie stand Sarah zu ihren Pflichten als Jüdin? Was für eine Lebensweise sah sie für sich als richtig an? Glaubte sie wirklich an Gott? Wie sich herausstellte, war sie in diesen Fragen innerlich zerrissen.
»Gott? Wer kann schon über Gott etwas sagen, Charlie? Da kann sich niemand sicher sein. Und was das Übrige anbelangt – ich übertrete alle möglichen Gesetze. Schau dir nur an, was ich mit dir tue.« Sie zuckte die Achseln. »Die Wahrheit lautet wahrscheinlich, dass ich wochentags säkular bin und am Wochenende zu meiner Tradition heimkehre. Keine Ahnung, wie das auf lange Sicht funktionieren wird.«
Einmal ertappte sie ihn dabei, wie er ein Buch über den Judaismus las.
»Du weißt bald besser Bescheid als ich«, lachte sie.
Aber Charlie war nicht lediglich auf das Judentum neugierig geworden. Die Begegnung mit ihrer Familie brachte ihn dazu, sich generell über religiöse und kulturelle Gruppen Gedanken zu machen, die er bis dahin in dieser großen Stadt für selbstverständlich genommen hatte. Die Iren, die Italiener, die Menschen, die aus allen möglichen anderen Ländern ins Land strömten. Was wusste er über seine Nachbarn wirklich? Wenn er ehrlich sein sollte: so gut wie gar nichts.
*
Die Ausstellung wurde im April eröffnet – und war ein großer Erfolg. Rose Master übertraf sich selbst. Sammler, Museumsdirektoren und Kuratoren, Leute aus der guten Gesellschaft: Sie alle kamen auf ihre Fürsprache hin. Der Katalog und die kleinen historischen Anmerkungen, die Sarah zusammengestellt hatte, waren perfekt. Charlie mobilisierte Journalisten und Literaten; den Rest erledigte die Galerie.
Zu seinen Lebzeiten hatte Theodor Keller Tausende von signierten Abzügen angefertigt, und bereits während der Vernissage wurde eine große Menge davon verkauft. Nicht nur das – ein Verleger wandte sich an Charlie mit der Idee, einen Bildband herauszugeben.
Es waren mehrere Kellers anwesend, Nachkommen von Theodor und dessen Schwester Gretchen. Auch Sarahs Angehörige kamen zur Eröffnung; sie hielten sich zwar bescheiden im Hintergrund, waren aber sichtlich stolz auf ihren Erfolg. Charlie verfiel kurzzeitig in Panik, als ihm bewusst wurde, dass mehrere seiner Freunde von seiner Affäre mit Sarah wussten, doch ein paar diskrete Worte mit einigen von ihnen reichten aus, um sicherzustellen, dass niemand
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