Im Rausch der Freiheit
ihr selbst gesagt. Er ist ein sehr guter Arzt.«
»Das will ich gern glauben.«
»Nun, ich werde mich da nicht einmischen.«
»Schön zu wissen.«
Charlie hatte so aufmerksam zugehört, dass er fast den Faden des Gesprächs verlor, das er seinerseits mit Rachel führte und in dem es um deren Kinder zu gehen schien. Was für ein Arzt? Wann war Sarah mit ihm essen gewesen?
Und dann war es Zeit, sich zu Tisch zu setzen. Die Tafel war festlich gedeckt. Das Besteck war auf Hochglanz poliert. Während die Mahlzeit ihren langsamen zeremoniellen Gang nahm, erklärten Rachel oder ihre Mutter – gelegentlich von einem von Sarahs Brüdern unterstützt –, was gerade geschah.
»Die Mitzwa von Pessach besteht darin, der jüngeren Generation unsere Gefangenschaft in Ägypten und unsere Befreiung daraus begreiflich zu machen«, erklärte ihm Rachel. »Deswegen zerfällt das Sedermahl auch in zwei Hälften. Die erste soll uns an unsere Sklaverei erinnern; die zweite an unsere Befreiung.«
»Und das ist die Matze, das ungesäuerte Brot«, sagte Charlie, auf einen Teller am einen Ende der Tafel deutend.
»Richtig. Drei Matzen. Außerdem haben wir auf dem Sederteller Bitterkräuter, die uns an die Bitternis der Sklaverei erinnern sollen. Dann Charosset – das ist eine Art Paste aus Obst und Nüssen – für den Mörtel, mit dem die jüdischen Sklaven die Kornspeicher Ägyptens bauten; als Gemüse haben wir Petersilie. Die werden wir in Salzwasser tunken, das uns an unsere Tränen erinnert. Weitere Symbole sind ein gesottenes Ei und ein gerösteter Lammschenkelknochen. Während des Mahls werden wir außerdem vier Becher Wein – die Kleinen Traubensaft – trinken zum Gedenken an die vier Versprechen, die Gott uns machte.«
Dr. Adler begann den Seder mit einem Segen, dem eine Handwaschung folgte. Das Gemüse wurde in Salzwasser getaucht, die mittlere Matze entzweigebrochen, dann begann die Erzählung vom ersten Pessach.
Während der Abend langsam voranschritt, empfand Charlie eine immer tiefere Bewunderung. Er hatte nie geahnt, wie schön dieses Ritual war. Als die Einladung zum Seder – nicht auf Hebräisch, sondern auf Aramäisch – rezitiert wurde, ging ihm wie eine regelrechte Offenbarung auf, dass dies natürlich genau die Riten waren, die Jesus beim letzten Abendmahl durchgeführt haben musste. Und er dachte an die spröden neuenglischen Episkopalen aus seinem Bekanntenkreis und fragte sich, wie vielen von ihnen tatsächlich bewusst sein mochte, welch reiches nahöstliches Erbe ihre Religion in sich bewahrte.
Dann kam der Zeitpunkt, an dem das jüngste von Rachels Kindern die vier Fragen stellen musste, beginnend mit: »Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?«
Wie bewegend das alles war! Charlie dachte an Thanksgiving, das am tiefsten verwurzelte Familienfest in der ganzen amerikanischen Tradition, und an das freudige gemeinsame Mahl. Thanksgiving war etwas Reales. Ein bedeutsames Fest, und schon über dreihundert Jahre alt. Weihnachten war natürlich weit älter, doch die modernen Weihnachtsriten, das Abendessen und der Weihnachtsbaum, ja selbst Santa Claus waren genau genommen nicht annähernd so alt wie Thanksgiving. In den jüdischen Haushalten hingegen fand sich eine Tradition, die nicht lediglich auf Jahrhunderte, sondern auf Jahrtausende zurückblickte.
Und alles diente zugleich der Belehrung der Kinder. Die Geschichte von Pessach, die vier Fragen, die Bedeutung des Seder – an allem mussten die Kinder aktiv teilnehmen. Dr. Adler sprach zu ihnen recht ausführlich von der Bedeutung der Knechtschaft und der Befreiung aus Ägypten, und sie zählten die zehn Plagen auf. Dann kamen der zweite Becher Wein, eine weitere Handwaschung und Segenssprüche, bevor die eigentliche Mahlzeit begann.
Während der Sederabend seinen ritualisierten Fortgang nahm, war Charlie nicht mehr lediglich bewegt, sondern immer tiefer beeindruckt. Dr. Adlers warmer, väterlicher Gesichtsausdruck hätte derjenige eines beliebigen Mannes sein können, der mit seinen Enkelkindern eine Mahlzeit teilte. Doch unter dieser Normalität schimmerte eine Leidenschaft, eine Ernsthaftigkeit hervor, die Charlie nur bewundern konnte. Diese Menschen hatten Respekt: vor der Tradition, vor der Bildung, vor allem Geistigen.
Waren solche Dinge auch unter Christen zu finden? In den Familien von Universitätsdozenten, Lehrern und Geistlichen mit Sicherheit, wenngleich nicht mit dieser Intensität. Sarahs Familie gehörte einer
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