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Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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hatte, schlich Roland auf Zehenspitzen aus der Nebenkammer – in der er wach gelegen hatte, bis endlich das Schnarchen des Königs an sein Ohr gedrungen war –, um sich im Dunkeln an der dreifach verriegelten Tür zu schaffen zu machen. Ein heißer Klumpen in seiner Kehle machte ihm das Atmen schwer. Wenngleich er sich bemühte, ihn zu schlucken, stieg er immer wieder von Neuem in ihm auf. Er würde die Liebe seines Lebens nicht widerstandslos aufgeben! Zwar hatte Löwenherz ihn nach dem Bankett nachdrücklich davor gewarnt, sich in Jeanne de Maines Nähe erwischen zu lassen und jeglichen Protest des Knaben im Keim erstickt. Doch selbst wenn der König ihn dafür in den tiefsten Kerker werfen ließ, würde Roland nicht so einfach klein beigeben! Erneut legte sich ein kaltes Band der Verzweiflung um sein Herz und drohte, ihm vor Schmerz und Enttäuschung die Luft zu rauben. Nach Monaten des Wartens, Bangens und Hoffens hatte er endlich von der Frucht kosten dürfen, die durch die Scheidung von ihrem Gemahl nicht mehr verboten war, nur um sie sofort wieder zu verlieren!? Bevor er das zuließ, würde die Hölle einfrieren! Mit vor Aufregung zitternden Fingern schob er den Riegel zurück und wollte gerade durch den schmalen Spalt schlüpfen, als er eine eisenharte Klaue im Nacken spürte. Diese riss ihn mit so viel Gewalt zurück in die Schlafkammer, dass er vermeinte, sein Genick brechen zu hören. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen knallte er gegen das Bettgestell und ging mit einem Stöhnen zu Boden, nur um augenblicklich wieder in die Höhe gezerrt zu werden. Hart traf ihn der Handrücken im Gesicht, und während er spürte, wie seine Lippe aufplatzte, folgte ein weiterer Schlag, der ihm die Sicht vernebelte. Er wurde grob gegen die kalten Steinquader der Wand geschleudert, wo er regungslos liegen blieb. Als Richard Löwenherz’ Silhouette vor dem ersterbenden Feuer über ihm Gestalt annahm, kroch Roland ein eisiger Schauer der Furcht über den Rücken. Noch niemals zuvor hatte er seinen Halbbruder so zornig gesehen. Das vom Schlaf zerwühlte Blondhaar hing ihm tief in die Stirn, auf der eine fingerdicke Ader pulsierte. Der Ausdruck in den grauen Augen war der einer Sphinx. Hätte Roland die Wahl gehabt, hätte er es in diesem Augenblick vorgezogen, diesem Dämon der Zerstörung und des Unheils gegenüberzustehen.
    »Wenn du dich nicht von ihr fernhalten kannst«, presste Richard zwischen mahlenden Kiefern hervor, »dann werde ich dir eine Lektion erteilen, die du nie wieder vergisst!« Obwohl ihm die Furcht vor dem in seinem Jähzorn unberechenbaren Löwenherz beinahe die Luft raubte, keimte bei diesen Worten ein beinahe selbstmörderischer Widerspruchswille in Roland auf, der ihn allen Mut zusammennehmen und trotzig fauchen ließ: »Und wenn Ihr mich dafür tötet, ich liebe sie!« Sprachlos über diese Unverschämtheit hielt der englische König einige Atemzüge lang inne. Dann trat er mit zwei langen Schritten an das niedrige Tischchen neben seiner Bettstatt, auf dem er Schwert und Dolch abgelegt hatte, zog die kürzere der beiden Waffen aus der Scheide und setzte sie seinem vor Entsetzen keuchenden Knappen auf die Brust. Mühelos zog er den Jungen auf die Beine, während sich die Spitze der Klinge in die empfindliche Haut direkt unter der Kehle seines Halbbruders bohrte. »Ich brauche die Unterstützung des Grafen von Blois«, zischte Richard hart. »Und die Kleine ist das Billigste, was ich ihm anbieten kann.« Roland schluckte trocken. »Wenn du es wagen solltest, sie dir zu nehmen«, die Stimme des Königs war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, »dann erachte ich das als Hochverrat!« Ein kalter Funken ließ die grauen Augen wie geschmolzenes Blei erscheinen. »Und jetzt verschwinde, bevor ich dir eigenhändig die Knochen breche!« Außer sich vor Zorn stieß er den bebenden Knaben von sich, sodass dieser gegen die Tür taumelte. »Ich werde Mercadier deine Bestrafung überlassen.«

London, Weihnachten 1195
     
    Undiszipliniert!, schoss es Guillaume of Huntingdon durch den Kopf. Vollkommen undiszipliniert und unkoordiniert! Verborgen im Schatten eines Torbogens verfolgte er, wie die kleinen Gruppen Aufständischer sich im Marktgetümmel über die Reisenden hermachten, die zu den Feiertagen in die Hauptstadt des Landes gekommen waren. Ihre Truhen und Säcke waren prall gefüllt mit Dingen, die es sich zu rauben lohnte. Seit Tagen überfielen die Männer und Frauen FitzOsberns bereits reiche Händler

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