Im Reich der Löwin
So viel Überraschung lag in der Stimme ihres Sohnes, dass – hätte Aliénor von Aquitanien ihn nicht seit frühester Kindheit gekannt – sie ihm um ein Haar Glauben geschenkt hätte. »Erspar mir die Lügen!«, befahl sie stattdessen kurz angebunden und musterte ihn mit vor Zorn dunklen Augen. »Ich habe dir schon mehr als einmal gesagt, du solltest mir die Angelegenheit überlassen«, setzte sie hinzu, nachdem John ihren Blick einige Sekunden kalt erwidert hatte. »Wenn du weiterhin Hochverrat begehst, kann ich dich bald nicht mehr vor ihm schützen!« Mit einem verächtlichen Schnauben ging Lackland vor seiner Mutter in die Knie und blickte sie mit geschürzten Lippen an. »Deine Versprechungen mir gegenüber scheinen meinen Bruder nicht sonderlich zu beeindrucken«, versetzte er schneidend. »Und nachdem er mir nicht nur Arthur, sondern auch Otto vor die Nase gesetzt hat, erschien es mir an der Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.« Kopfschüttelnd griff die alte Dame nach seinen Händen und drückte sie mit erstaunlicher Kraft. »Hör auf gegen Richard zu intrigieren!« So viel Nachdruck lag in ihrer Stimme, dass John gegen seinen Willen den Blick abwandte und den Kopf senkte. »Ihr schwächt euch gegenseitig. Gib mir ein wenig Zeit, seine Sturheit zu brechen.« Sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie hinzusetzte: »Ich werde ihn zur Vernunft bringen«, versprach sie. »Halte du deinen Treueeid, auch wenn er sich noch so taktlos dir gegenüber verhält!« Einige Atemzüge lang schwiegen beide, bevor John sich mit einem tiefen Seufzer erhob und Einsicht heuchelnd erwiderte: »Das würde ich gerne, Mutter, aber es würde mir um einiges leichter fallen, wenn er mich offiziell als seinen Nachfolger anerkennen würde.«
Die Normandie, März 1196
Keine zwei Tage nach dieser Auseinandersetzung erreichte der Helfershelfer des Prinzen – Guillaume of Huntingdon – unter strengster Bewachung die Normandie. Heiteres Vogelgezwitscher lag über der Küstenlandschaft, deren schroffe Kreidefelsen soeben im Rücken des englischen Reiterverbandes verschwanden. Strahlend brannte die Sonne von dem azurblauen Himmel, der nur am Horizont von dünnen Schönwetterwolken verschleiert wurde, die vermutlich im Lauf des Tages vom Westwind zerstreut werden würden. Noch waren die Bäume, welche die schnurgerade nach Süden führende Straße säumten, kahl. Doch die prallen Knospen verrieten, dass sich das neue Leben in sehr naher Zukunft Bahn brechen würde. Nur noch wenige weiße Flecken erinnerten an die Schneedecke, die bis vor wenigen Wochen die Landschaft erstickt hatte. Und zwischen dem struppigen Gras des Vorjahres streckten bereits die ersten schüchternen Blüten ihre sonnenhungrigen Häupter gen Himmel. Hoch über den Köpfen der Männer zogen drei schwarze Milane ihre Kreise über einem kleinen Wasserlauf, der sich durch die mit Stroh und altem Kuhdung abgedeckten Felder schlängelte. Den wenigen Informationen zufolge, die dem in Ketten gelegten Guillaume of Huntingdon zu Ohren gekommen waren, befanden sie sich auf dem Weg nach Poitiers. Dort schöpften sowohl Richard Löwenherz als auch sein Bruder, Harold of Leicester, nach einem Blitzkrieg in der Bretagne neue Kräfte.
Der Gedanke an das, was ihm bevorstand, wenn sie den Hof der aquitanischen Herzogin und Mutter des Königs erreichten, sandte ihm einen kalten Stich der Furcht durch die Eingeweide. Wenngleich Richard Löwenherz auch über ihn das Todesurteil verhängt hatte, wollte er die endgültige Entscheidung über Guillaumes Bestrafung dessen Halbbruder Harold überlassen. Mühsam versuchte Guillaume, die Angst zu schlucken. Doch mit jeder Meile, die sie weiter auf das im Süden gelegene Herzogtum zugaloppierten, schien sie weiter anzuschwellen und ihm die Luft zum Atmen zu rauben. Denn nach dem, was Guillaume Harolds Gemahlin und Kindern angetan hatte, war Milde das Letzte, was er von seinem Halbbruder zu erwarten hatte! Zudem bestand die Möglichkeit, dass Harold inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, dass der Reitunfall ihres Vaters alles andere gewesen war als ein Unfall. Guillaume fröstelte. Nein, Milde hatte er ganz sicher nicht zu erwarten! Während der schlammige Boden unter den Hufen des plumpen Kaltblüters, auf den man ihn zur Mehrung seiner Schande gesetzt hatte, dahinflog, wanderten seine Gedanken weiter zu dem Mann, in den er alle seine Hoffnungen setzte. John Lackland würde einen Weg finden, seine Bestrafung in eine Verbannung,
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