Im Reich der Löwin
das Ungleichgewicht seiner Körpersäfte zugrunde gerichtet hatte. Ungeduldig wischte sich der vollkommen durchnässte französische König den Regen aus den Augen und glitt aus dem quietschenden Sattel, sobald das Vordach des Stallgebäudes sich schützend über ihm wölbte. »Ich will nicht gestört werden!«, herrschte er seinen verschüchterten Knappen an, der sich mit einer tiefen Verbeugung aus der Affäre zog, und stürmte in Richtung Hauptgebäude davon, um seinem Schreiber augenblicklich einen Brief zu diktieren. Mit diesem würden sämtliche Zugeständnisse für ungültig erklärt, die er Balduin von Flandern zum Zeitpunkt seiner Gefangenschaft gemacht hatte, um seine Freiheit zurückzuerlangen.
Diese Unverschämtheit!, grollte Philipp, während er die breiten Stufen ins Obergeschoss erklomm, wo er sich nach rechts wandte, um in den Südflügel zu eilen, in dem sich seine Zimmerflucht befand. Nachdem er – erzürnt über die Aufkündigung der Lehnsgefolgschaft Balduin von Flanderns – zu Beginn des Monats ungestüm in dessen Grafschaft vorgestürmt war, um diesen abtrünnigen Vasallen Mores zu lehren, hatte sich die Talfahrt seines Schicksals weiter beschleunigt. Denn es war Balduins Männern gelungen, ihn in einen Hinterhalt zu locken, seine Nachschublinien zu kappen und ihn schließlich gefangen zu nehmen. Erst nachdem der französische König dem flandrischen Grafen weitreichende Zugeständnisse gemacht hatte, war dieser gewillt gewesen, seinen ehemaligen Lehnsherrn wieder auf freien Fuß zu setzen. Was dem Verbündeten des Grafen – Richard Löwenherz – genug Zeit erkauft hatte, um im Berry durch Einnahme von zehn Festungen seine Position zu festigen. »Ehrloses Gewürm!«, murmelte Philipp, der sich den Wortlaut der Nachricht während des gesamten Rittes nach Paris zurechtgelegt hatte. Wenn sich nicht bald etwas an seiner Lage änderte, würde der Engländer, dessen gewaltiges Bauvorhaben mit beängstigender Geschwindigkeit voranschritt, ihn bald so weit im Schwitzkasten haben, dass ihm nichts weiter übrig blieb, als ernsthaft über Verhandlungen nachzudenken!
Château Gaillard, September 1197
Die Kakophonie von schlagenden Hämmern, kreischenden Winden und knarrenden Wagenrädern verschluckte die Worte der sich über den Lärm anbrüllenden Männer. Und auch Roland musste die Hände trichterförmig an den Mund legen, um sich seinem Bruder Henry, der die letzten Schmuckarbeiten an der Fassade des inzwischen fertiggestellten Donjons des Château Gaillard beaufsichtigte, verständlich zu machen. »Robin of Loxley will dich sprechen!«, schrie er seinem Bruder ins Ohr. Der Schein der Herbstsonne ließ Henrys kupferfarbenes Haar aufleuchten, und es schien beinahe, als habe die Natur versucht, mit der Färbung der feurigen Blätter den gleichen Ton zu treffen. Über den Wipfeln der flammenden Ahorne und Buchen leuchtete ein beinahe unnatürlich blauer Himmel. Auch wenn die Luft bereits eine gewisse Grundkühle erahnen ließ, drangen die Sonnenstrahlen immer noch bis tief unter die Haut. Mit einem Nicken klopfte der Jüngere seinem großen Bruder auf die Schulter, zwinkerte Ludwig von Blois zu, der keine zwei Dutzend Schritt von ihnen entfernt in ein Gespräch mit dem Earl of Lincoln vertieft war, und schlenderte in aller Seelenruhe auf das bereits vor mehreren Wochen fertiggestellte Wohngebäude der Hauptburg zu. In diesem würden die geringeren Adeligen Unterkunft finden, wenn der Umzug nach Les Andelys abgeschlossen war. Der König selbst begnügte sich mit lediglich vier Gemächern in dem begrenzten Raum des Donjons , die er bereits von seinem Steward hatte einrichten lassen. Auch die übrigen Bewohner der zum Teil noch im Bau befindlichen Festung würden die eine oder andere Unannehmlichkeit in Kauf nehmen müssen, da aufgrund der rein militärischen Aufgabe des Komplexes wenig Raum zur Errichtung einer Residenz geblieben war. Roland schmunzelte, als er dem Rücken seines Bruders hinterherblickte. Obwohl er dem geckenhaften Grafen von Blois, dessen Augen verklärt jeder Bewegung Henrys folgten, immer noch dafür grollte, dass er der Grund seiner Trennung von Jeanne war, freute er sich dennoch für seinen Bruder. Robin of Loxley hatte Henry auf Bitte des Grafen aus seinen Diensten entlassen, damit dieser den Rest seiner Knappenzeit unter Ludwig verbringen konnte. Bei der Zweideutigkeit dieser Worte hatte Roland Mühe, sich ein anzügliches Grinsen zu verkneifen, da der nur zwei Jahre ältere
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