Im Reich des Vampirs
während meine Schwester viertausend Meilen entfernt in einer dreckigen Gasse in Dublin jämmerlich verblutet war? Weil ich über Monate hinweg jede Woche stundenlang mit Alina telefoniert und nie etwas an ihrer Stimme gemerkt hatte? Weil ich ständig auf meinen rosaroten Wolken geschwebt und mich zu sehr in meiner glücklichen kleinen Welt geaalt hatte, um zu begreifen, dass in ihrer etwas nicht stimmte? Weil mein blödes Handy in den Pool gefallen und ich zu faul gewesen war, mir ein neues zu besorgen, deshalb ihren letzten Anruf und meine letzte Chance, ihre Stimme zu hören, verpasst hatte? »Ist es, weil ich sie im Stich gelassen habe? Ist es das? Ich sehe dich, weil ich mich schäme, die Ãberlebende zu sein?«
Dunkelheit gähnte mich aus der Kapuze des Gespenstes an, eine namenlose, seidige Finsternis, die Vergessen versprach. War das mein unterbewusstes Streben? War mein Leben so fremdartig und schrecklich geworden, dass ich es nicht mehr weiterführen wollte und mir, statt mich mit der Angst vor dem Tod zu quälen, den Tod wünschte, den ich glaubte zu verdienen? Tröstete ich mich mit dem Gedanken, sterben zu können?
Nein â das war viel zu kompliziert für mich. Ich hatte keine suizidalen Neigungen. Ich glaubte fest an einen Silberstreif und Regenbögen, und all die Monster und Schuldgefühle in der Welt konnten daran nichts ändern.
Was war es dann? Mir fiel nichts anderes ein, das mir ein schlechtes Gewissen machen könnte, und ehrlich gesagt, ich war auch nicht in der Stimmung, mir deswegen weiter den Kopf zu zerbrechen; meine Psyche selbst zu analysieren hatte für mich in etwa den Stellenwert einer unnötigen Wurzelkanalbehandlung.
Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, meine FüÃe schmerzten, nachdem ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, und ich war hundemüde. Ich brauchte Behaglichkeit, Wärme und ein gutes Buch.
Müsste ich nicht in der Lage sein, meine eigenen Dämonen zu verscheuchen? Ich kam mir vor wie die gröÃte Idiotin, aber ich versuchte es trotzdem. »Hinweg mit dir, du feiger Unhold!« Ich warf eine Taschenlampe nach der Gestalt.
Die Lampe flog durch die Erscheinung hindurch und prallte an die Ziegelmauer dahinter. Und der Sensenmann verschwand.
Ich wünschte nur, ich könnte glauben, dass ich ihn für immer verjagt hatte.
Zehn
»Weshalb ist der Lord Master noch nicht aufgetaucht, um sich an mir zu rächen? Es ist schon zwei Wochen her.« Als Barrons am Montagabend in den Laden kam â eine Stunde früher als gewöhnlich â, sprach ich die Sorge aus, die mich den ganzen Tag beschäftigt hatte.
Wieder einmal regnete es. Und es waren kaum Kunden in den Laden gekommen. Dennoch fühlte ich mich schuldig, weil ich den Laden in den vergangenen Tagen so oft früher zugemacht hatte, und war fest entschlossen, heute bis Punkt sieben durchzuhalten, die Regale aufzuräumen und alles abzustauben.
»Ich denke, Miss Lane«, erwiderte Barrons, als er die Tür hinter sich schloss, »dieser Aufschub kommt uns gelegen. Achten Sie auf das âºunsâ¹ in diesem Satz, für den Fall, dass Sie so dumm sind, wieder auf eigene Faust zu handeln.«
Er würde mich niemals vergessen lassen, dass ich in der Schlacht in der Dunklen Zone mein Leben gelassen hätte, wenn er mir nicht hinterhergekommen wäre. Er konnte mir das, wann immer er wollte, unter die Nase reiben. Allerdings prallten seine wenig subtilen Anspielungen allmählich von mir ab. »Gelegen?« Mir war die Verschnaufpause sicherlich recht, aber ich glaubte kaum, dass Barrons das meinte.
»Ihm. Vermutlich ist er im Moment mit anderem beschäftigt. Möglicherweise ist er, als er durch das Portal verschwand,ins Reich der Feen gewechselt und dort vergeht die Zeit ganz anders als bei uns.«
»Das hat Vâlane auch gesagt.« Ich leerte die Kassenschublade aus, zählte die Scheine und fing an, Beträge in die Rechenmaschine einzutippen. Hier gab es keinen Computer, was die Buchhaltung zur Last machte.
Er richtete den Blick auf mich. »Ihr beide habt ziemlich nett geplaudert, was, Miss Lane? Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen? Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?«
»Ich stelle heute Abend die Fragen.« Eines Tages werde ich ein Buch schreiben: Wie beherrscht man einen Diktator und entzieht sich einem Menschen, der nur ausweicht. Untertitel:
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