Im Saal der Toten
Verschwinden. Ein paar Tage später – bingo.«
»Man hat sie gefunden?«
»Vergewaltigt, verprügelt und mit einem Spitzenband von ihrem Unterrock erdrosselt. Man fand ihre Leiche im Hudson River, drüben in der Nähe von Hoboken.«
»Wie ist sie denn dorthin gekommen?«, fragte ich.
»Mary ist wahrscheinlich mit einem Verehrer mit der Fähre übergesetzt. Dort gab es damals eine Art Seufzergässchen, das man die ›Elysischen Felder‹ nannte.«
Wie ironisch, dass der Ort in der griechischen Sage, an dem sich die Lieblinge der Götter nach ihrem Tod einfanden – ein Ort, der das ewige Glück symbolisierte –, der Schauplatz eines Mordes an einer schönen jungen Frau wurde.
Ich erinnerte mich an die Auflösung von Poes brillanter Detektivgeschichte. »War der Mörder von Mary Rogers ein Seemann?«
»Das dachten manche«, sagte Kittredge. »Um ihre Taille war ein Stein gebunden, und zwar mit einem Segelknoten. Aber der Täter wurde nie gefasst.«
»Haben Sie irgendwelche Theorien?«, fragte ich.
»Wussten Sie, dass spekuliert wurde, ob Edgar Allan Poe selbst der Mörder sei?«
Ich war geschockt. »Sie machen Witze.«
»Er hatte Feinde, Ms Cooper. Viele Feinde.«
»Ja, aber –«
»Die Detektivgeschichte war damals eine neue Erzählgattung, und sie ist von einigen Journalisten missverstanden worden. Ihrer Ansicht nach zeigte sich darin eine unnatürliche Obsession von dem Verbrechen. Poe selbst war vielen als etwas seltsamer junger Mann bekannt – feindselig, oft betrunken und depressiv, mit einer chronisch kranken Frau, die ihm keine gute Gesellschafterin sein konnte. Er war dafür bekannt, lange, ziellose Waldspaziergänge zu machen und mit der Fähre den Fluss zu überqueren. Seine Erzählung enthielt viele Details über den Mörder und seine Vorgehensweise – so etwas war noch nie zuvor in den Zeitungen gedruckt worden.«
»Das reicht wohl kaum, um ihm einen Mord anzuhängen.«
»Und die Flasche Laudanum, die man neben Marys Schirm und Schal fand? Poe war dafür bekannt, dem Opium in all seinen Formen nicht abgeneigt zu sein.«
»Für die damalige Zeit nichts Ungewöhnliches.«
»Da haben Sie Recht, Ms Cooper. Aber hinzu kommt noch die Tatsache, dass er Mary Rogers kannte. Möglicherweise vertraute sie ihm so sehr, dass sie –«
»Wie bitte?«, sagte ich. »Poe kannte die Tote?«
»James Fenimore Cooper, Washington Irving und, ja, Edgar Allan Poe waren alle Kunden in dem kleinen Zigarrenladen. Würde ich heutzutage in dem Fall ermitteln, würde ich mich mit Sicherheit mit Eddie unterhalten wollen.«
»Also haben Sie irgendwann Zeldin angerufen. Ging es dabei um Mary Rogers?«
»Ja. Ich hatte im Internet und in der New York Public Library recherchiert. Die Hälfte der Artikel, die ich gelesen habe, zitierten diesen Zeldin. Er gibt sich als der weltweit größte Poe-Experte aus. Ich rief ihn an und bat um ein Gespräch.«
»Also hat er Sie in die Bronx eingeladen?«
»Ja, zur Tabakmühle.« Kittredge wandte sich an Mercer. »Haben Sie schon mal eine Falle gewittert, Detective? Sind Sie schon mal in einen Hinterhalt getappt?«
»War es das Ihrer Meinung nach?«
Mike und mir gegenüber hatte sich Kittredge feindselig verhalten, war aber deutlich aufgetaut, als wir über Poe geredet hatten. Jetzt machte er plötzlich wieder einen paranoiden Eindruck und sah uns mit blitzenden Augen an, als bezweifle er, dass wir ihm glaubten. Seine Hände wanderten unruhig über die Ablage, spielten mit einer Zigarettenschachtel und drehten eine Serviette in Fetzen.
»Es hat mich meinen Job und beinahe meine Pension gekostet. Jemand hat mich in einen Hinterhalt gelockt.«
»Inwiefern?«, fragte ich.
»Ich wurde vor dem Tor von einer Bande Jugendlicher überfallen. Sie haben dort auf mich gewartet. Jemand muss ihnen gesagt haben, was für ein Auto ich fahre, wie ich aussehe und dass ich eine Waffe bei mir trage.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil sie sich etwas zuriefen, während sie mich zu Boden schlugen – einer der Jungs schrie einem anderen zu, er solle die Waffe suchen. Die Jungs waren nur wegen mir dort.«
»Ich dachte, sie hätten im Botanischen Garten gearbeitet.«
»Da haben Sie falsch gedacht. Zwei von ihnen hatten einige Jahre zuvor dort gearbeitet. Die Kids waren alle aus Queens. Keiner von ihnen hatte etwas mit dem Viertel zu tun.« Kittredge schleuderte mir die Worte regelrecht ins Gesicht.
»Waren sie bewaffnet?«, fragte ich.
»Sie hatten alle Messer bei sich.« Er schob seinen
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