Im Saal der Toten
Florida, und ich nahm mir zum Abendessen ein halbes Dutzend mit nach Hause.
Ich zog bequeme Klamotten an und starrte auf die Anzeige meines Anrufbeantworters. Keine Nachrichten. Wenn ich meine Freunde nicht daran erinnerte, dass ich menschlichen Kontakt brauchte, dachten die meisten, ich sei zu beschäftigt und hätte ohnehin keine Zeit für ein Privatleben.
Ich machte es mir im Wohnzimmer mit ein paar alten DVD-Filmen bequem und versuchte, die Anspannung der letzten Woche von mir abfallen zu lassen. Der dumpfe Kopfschmerz, den ich seit unserem Besuch im Poe Cottage mit mir herumgeschleppt hatte, meldete sich nur noch hin und wieder mit einem Pochen zurück. Ich stocherte an den fleischigen Krabben herum, las einige Kapitel der neuesten Biographie von Marie Antoinette und ging dann früh zu Bett.
Trotz der Kälte öffnete ich das Fenster weit und ließ auch das Licht im Flur brennen; von dunklen, verschlossenen Räumen hatte ich fürs Erste genug. Meine letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten Mike und wie allein er sich fühlen musste.
Als ich am nächsten Morgen um Viertel nach sieben die Lobby des Strafgerichts durch die Drehtür betrat, war außer dem Sicherheitsbeamten am Schalter niemand zu sehen. Ich hatte einiges wegzuarbeiten. Zwei Stunden früher da zu sein als die anderen, würde mir ermöglichen, mich ungestört durch den Stapel an unerledigten Akten und Schriftstücken zu wühlen.
Das Tagesgeschäft der Abteilung für Sexualverbrechen war unter der sorgfältigen Aufsicht meiner Stellvertreterin Sarah Brenner weitergegangen. Unsere Expertinnen für ungelöste Fälle, Catherine und Marisa, hatten mir Memos hinterlassen, dass CODIS innerhalb einer Woche acht DANN-Treffer vermeldet und damit Fälle gelöst hatte, die bis zu acht Jahre zurücklagen. Die anderen Staatsanwälte in meiner Abteilung – vierzig an der Zahl – waren an unzähligen Verbrechensschauplätzen und Krankenhausbetten gewesen, hatten Dutzende Zeugen vernommen und in sechs Vergewaltigungsfällen »bereit für das Verfahren« geantwortet – die vier Zauberworte, die die Geschworenenauswahl in Gang setzten. Ich las die Zusammenfassungen aller neuen Fälle, um mir einen Eindruck von jedem Fall und dem Arbeitsaufwand der Anwälte zu machen.
Im Kino oder im Fernsehen schienen sich Cops und Staatsanwälte nie über alte oder andere laufende Ermittlungen Gedanken machen zu müssen. Dabei stiegen Einbrecher nach wie vor über Feuerleitern in fremde Wohnungen ein und vergewaltigten schlafende Frauen, Missbrauchsopfer wurden von ihren Expartnern verfolgt und auf der Straße angegriffen, Studentinnen von Kommilitonen mit Alkohol gefügig gemacht und Kinder dort, wo sie am sichersten sein sollten – zu Hause, in der Kirche, in der Schule –, von Pädophilen belästigt.
Als Laura um neun Uhr ins Büro kam, diktierte ich ihr eine halbe Stunde lang die Korrespondenz, übertrug ihr einige Anrufe und ordnete die Memos für die Aktenablage. Als Erstes faxte ich einen Beschluss an den Protokollchef bei der UNO und schickte das Original per Boten hinterher. Er hatte die Wahl: Entweder er fand sich um vierzehn Uhr vor der Grand Jury ein oder er händigte Mercer Wallace die Privatadressen der diplomatischen Vertreter aus.
Der Vormittag verging wie im Flug, während Sarah und ich die neuen Fälle besprachen und die Anwälte einer nach dem anderen zu mir kamen, um ihre jeweiligen Ermittlungen mit mir zu besprechen.
Mercer rief mich um Viertel vor zwei aus dem Protokollbüro an. Er hielt die Liste mit den Privatadressen in der Hand. »Wir haben es mit über dreißig Ländern zu tun«, sagte er. »So wie’s aussieht, passen elf davon in unser geographisches Profil.«
»Ist der Lieutenant mit von der Partie?«
»Ja. Er hat die Sache ganz oben durchgeboxt. Der Chief of Detectives fordert gerade Zivilbeamte an, die heute Nachmittag ab vier Uhr mit Beginn der Abendschicht alle Häuser überwachen werden.«
»Können wir sonst noch irgendetwas tun?«
»Als Nächstes rufe ich die Einwanderungsbehörde an, um zu sehen, ob wir irgendwelche Informationen über Familienmitglieder bekommen können, die hier gelebt haben oder zu Besuch waren.« Noch vor wenigen Jahren wäre das unmöglich gewesen, da die Einwanderungsbehörde erst kürzlich ihre Daten computerisiert hatte.
»Wunderbar. Battaglia hat für vier Uhr ein Treffen anberaumt, um die Ereignisse der letzten Woche zu besprechen. Sag Laura, sie soll mich aus dem Treffen holen, falls sich etwas
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