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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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die riesige Pflanze umgaben. Encephalartos horridus – ein heimtückischer blaugrüner Brotpalmfarn stand auf einem Schild.
    Die langen Zweige dieses grünen Monsters waren über und über mit Stacheln versehen, und Ellen war mit dem Gesicht und Oberkörper auf sie gestürzt. Ich musste sie buchstäblich abpflücken, wobei ihr die Dornen wie rostige Nägel in der Haut steckten.
    Ich half ihr, sich auf den Boden zu setzen und wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Hinter mir murmelte Scotty Entschuldigungen, dass er uns nicht helfen könne.
    »Ruf den Notarzt, Scotty. Schaffst du das?«
    Ellen fing an, sich Stacheln aus der Stirn zu ziehen.
    »Nicht anfassen«, sagte ich. »Überlassen Sie das lieber mir.« Ich sah, dass sie ihre Verletzungen dadurch nur noch schlimmer machte. Sie musste enorme Schmerzen haben, und ich versuchte, ihre Wunden mit den Fingern offen zu halten, um die Stacheln herauszuziehen, ohne sie noch mehr zu verletzen.
    Ich blickte über die Schulter. Scotty lehnte an einem kleinen Baumstamm. Der übergewichtige Detective mühte sich mit seinem Handy ab. Er sah aus, als würde er gleich einen Herzinfarkt bekommen.
    Ich nahm ihm das Handy aus der Hand und wählte den Notruf.
    »Es ist nur meine Angina, Alex. Es geht schon wieder.«
    »Vermittlung? Ja, es handelt sich um einen Notfall. Im Botanischen Garten. Im Gewächshaus.«
    Eine Litanei an Fragen.
    »Nein, ich habe keine Ahnung, wie die nächste Querstraße heißt. Ein Polizist ist außer Gefecht. Eine Staatsanwältin schwer verletzt. Wir brauchen einen Krankenwagen und die Polizei.«
    »Ich verstehe nicht, Miss. Handelt es sich um ein Verbrechen oder einen ärztlichen Notfall?«
    »Beides, verdammt noch mal. Wir vergeuden hier kostbare Zeit.«
    Ich gab noch einmal alle Informationen durch, bevor ich auflegte und Mercers Nummer wählte. »Wo zum Teufel steckst du?«
    »Ich bin vor dem Verwaltungsgebäude. Ich bin gerade gekommen, aber hier ist niemand.«
    »Wir sind im Kristallpalast. Schnapp dir ein paar Sicherheitsbeamte, und komm so schnell du kannst hierher! Ein Krankenwagen ist schon unterwegs. Ich erklär’s dir später.«
    Ich ließ das Telefon fallen und versuchte wieder Ellen daran zu hindern, sich die Stacheln aus dem Gesicht zu ziehen.
    Plötzlich fiel mir auf, dass Zeldin in keinster Weise seine Hilfe angeboten hatte. Ich drehte mich um, um ihn zur Rede zu stellen, aber er war nirgendwo zu sehen.

 

42
     
    »Dauert es so lange, wie es sich anfühlt?«, fragte Ellen.
    Ich hatte alle Stacheln aus ihrem Gesicht entfernt. Blut lief ihr über die Wangen und den Hals. Meine Hände waren ebenfalls blutverschmiert.
    »Ist es in Ordnung, wenn ich zum Eingang zurücklaufe? Vielleicht hat Mercer Schwierigkeiten hereinzukommen.«
    Sie nickte.
    »Scotty, beweg dich keinen Millimeter, bis ich mit Mercer zurückkomme.« Meine Ermahnung schien unnötig. Ich rollte meinen blutigen Schal zu einem Knäuel zusammen und schob ihn unter seinen Kopf.
    Ich ging durch die afrikanische Wüste zurück. Die Abendsonne warf jetzt lange Schatten durch die Fensterscheiben, und die Vegetation wirkte nach dem Angriff auf Ellen noch unheimlicher – Zweige, Ranken und Blätter so groß wie Elefantenohren, die sich vor mir ausbreiteten, als wollten sie mich packen und am Weitergehen hindern.
    Ich fing zu laufen an, als sich der Weg etwas nach unten neigte. Zweige verfingen sich in meinen Haaren und meiner Jacke. In dem langen Tunnel herrschte eine beklemmende Dunkelheit, wie in einer menschenleeren U-Bahn-Röhre. Ich wandte den Kopf, weil ich Geräusche hörte, aber es war nur das Hallen meiner eigenen Schritte.
    Am Ende des Tunnels hatte sich eine Wasserpfütze gebildet, sodass ich ins Rutschen kam und mich an dem moosbewachsenen Felsen abstützen musste. Die pelzige, feuchte Oberfläche erinnerte mich an eine Hand voll Raupen.
    Ich drückte mich ab und lief die Rampe hoch, wobei ich mir den Kopf an den jadegrünen Hängepflanzen und den harten Kakaofrüchten anschlug. Das viktorianische Becken war eine Oase inmitten dieser verschwenderischen Kunstlandschaft, doch Sekunden später umfing mich schon wieder die Schwüle des tropischen Dschungels.
    Das Dickicht raubte mir jede Sicht, aber nachdem ich einen riesigen Baum passiert hatte, hörte ich Schritte über mir. In meiner Angst, den jugendlichen Schlägern in die Arme zu laufen, duckte ich mich unter einen Farnbaum und blickte nach oben. Es war nur der Arbeiter auf dem Höhenweg, der immer noch die

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