Im Saal der Toten
basierend auf der Schädelform und Andys Messungen, verschiedene Formen ausprobieren. Dann würde ein forensischer Modelleur versuchen, das Computermodell dreidimensional umzusetzen. »Es gibt nur sehr wenige Künstler, die diese Fähigkeit haben. Wenn wir Glück haben, ist das Modell im April oder Mai fertig. Jetzt ist Mike vorerst wieder am Ball.«
»Das Computersystem der New Yorker Polizei speichert Vermisstenmeldungen nur bis 1995. Alles davor ist Handarbeit. Außerdem muss Scotty jeden Polizeibezirk im Nordosten des Landes kontaktieren. Wir wissen ja nicht, wo die Tussi herkam.«
»Bei den Bundesfritzen müssen wir natürlich auch nachfragen.« New York war das Mekka für Hunderttausende junger Männer und Frauen aus allen Teilen des Landes. Wer sein Leben im Griff hatte, kam hierher, um zu arbeiten oder zu studieren, aber jemand, der labil oder naiv war, konnte leicht in einen Strudel aus Drogen, Alkohol, Prostitution und Verbrechen geraten.
»Geh du nach Hause und halt deinen Schönheitsschlaf, Coop. Andy hat uns für den Anfang schon mal mit den wichtigsten Daten versorgt. Bis wir mit der Sache an die Öffentlichkeit gehen, werden wir ziemlich genau wissen, nach wem wir suchen.«
Ich ging den grün gekachelten Flur zurück zum Lift, fuhr hinauf ins Erdgeschoss und winkte vor dem Ausgang in der First Avenue ein Taxi herbei.
Trotz der Kälte war auf der Upper East Side mit ihren vielen Bistros und Bars einiges los. Es war Freitagabend, und viele junge Leute ließen eine lange Arbeitswoche mit Hamburgern und Drinks ausklingen, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machten.
Wie viele der Frauen, die heute Abend jemanden kennen lernen wollten, wussten, dass ein gefährlicher Vergewaltiger dieses Viertel im Visier hatte? Wie viele würden nach vier oder fünf Drinks angeheitert und sorglos eine Bar verlassen und nach Mitternacht allein durch die Seitenstraßen laufen?
Ich war um halb neun zu Hause und ließ meine Akten und meine Tasche im Flur fallen. Der Anrufbeantworter neben dem Bett zeigte drei Nachrichten an, ich hörte sie ab, während ich mich auszog.
»Alex? Bist du zu Hause? Hier ist Lesley. Wie wär’s mit Kino und Abendessen? Ruf mich an.«
Die nächste Nachricht stammte von Nina Baum, meiner besten Freundin und früheren Mitbewohnerin am College, die jetzt in Los Angeles wohnte. »Dass du am Wochenende ja nicht in Selbstmitleid zerfließt! Wenn du dich einsam fühlst – ich bin das ganze Wochenende über zu Hause. Du hast das Richtige getan.« Nina hatte mir von allen meinen Freunden immer am deutlichsten zu verstehen gegeben, dass Jake nicht der Richtige für mich sei, und sie – wie auch Lesley – versuchten mich nach der Trennung von Jake bei Laune zu halten.
»Alexandra, hier ist Mercer. Greg Karras, der geographische Profiler, kommt morgen nach New York. Wir ziehen abends los. Gib mir Bescheid, falls du mitkommen willst.«
Ich rief alle drei zurück – sagte Mercer, dass ich mit von der Partie sein würde, plauderte mit Nina über die Ereignisse der letzten Woche, und hinterließ Lesley eine Nachricht, dass ich zu spät nach Hause gekommen sei, um ihr Angebot anzunehmen. Danach legte ich mich mit einem Stoß Zeitschriften in die Badewanne, wickelte mich in einen Bademantel und machte es mir im Wohnzimmer mit einem Dewar’s, einem English Muffin und einem Faulkner-Roman bequem, den Jake bei mir gelassen hatte.
Am nächsten Morgen wachte ich um sieben Uhr auf, erleichtert, die Nacht durchgeschlafen zu haben, ohne dass jemand vom Sonderdezernat für Sexualverbrechen angerufen hatte. Der Seidenstrumpfvergewaltiger hatte sich wieder eine Nacht freigenommen.
Ich holte die Zeitungen von der Fußmatte herein. Die New York Times berichtete auf der ersten Seite über die Friedensgespräche im Nahen Osten und den jüngsten Fauxpas des Präsidenten. Aber auf der Titelseite der Post prangte ein Foto des Unglückshauses in der Third Street und die cartoonähnliche Zeichnung eines Skeletts, das von einer zehn Zentimeter großen Schlagzeile herabbaumelte. Die Schlagzeile lautete: »Poes Gruft?«
10
»Haben Sie den Scheißartikel auf der Titelseite dieses Schundblatts gesehen?«, schrie Paul Battaglia ungefähr fünf Minuten später in den Hörer.
»Ja, Boss. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn zu lesen –«
Er zitierte aus dem Anfang. »›Die Polizei ist noch immer ratlos, um wen es sich bei dem Skelett handelt, das vorgestern Nacht im Keller eines Gebäudes der NYU gefunden
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