Im Schatten der Akazie
Gemahlin ab. Hier, in der vom Herrn der Beiden Länder gegründeten, weltoffenen Hauptstadt brodelte hingegen das Leben, man dachte weniger an die Vergangenheit und an das Jenseits.
Iset betrachtete sich in einem Spiegel aus polierter Bronze. Er war wie eine Scheibe geformt, und sein Griff stellte eine nackte, von einer Papyrusdolde gekrönte Frau mit langen Beinen dar.
Ja, sie war immer noch schön. Ihre Haut fühlte sich so weich an wie edler Stoff, ihr Gesicht hatte sich unglaubliche Frische bewahrt, und die Liebe leuchtete aus ihrem Blick. Dennoch würde sie nie an Nefertaris Schönheit heranreichen. Deshalb war sie Ramses dankbar, daß er sie nicht belog und gar nicht vorgab, er werde eines Tages seine erste Große Königsgemahlin vergessen. Iset war nicht eifersüchtig auf Nefertari, im Gegenteil, sie fehlte ihr. Nie hatte sie deren Platz begehrt, sondern sich damit zufriedengegeben, daß sie Ramses zwei Söhne schenken konnte.
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Wie sehr die beiden sich voneinander unterschieden! Der Erstgeborene, Kha, mittlerweile siebenunddreißig Jahre alt, bekleidete hohe religiöse Ämter und verbrachte den Großteil seiner Zeit in den Bibliotheken der Tempel, während sein zehn Jahre jüngerer Bruder, Merenptah, der ebenso kräftig und muskulös wie sein Vater war, eine ausgeprägte Vorliebe für das Erteilen von Befehlen bekundete. Vielleicht würde einer von ihnen einmal zum Herrschen berufen werden, doch der Pharao konnte ebensogut einen der vielen »Söhne des Königs«
als Nachfolger bestimmen, von denen sich die meisten als glänzende Verwalter erwiesen.
Iset legte weder Wert auf Macht, noch zerbrach sie sich den Kopf über die Zukunft. Sie kostete jeden Augenblick des Wunders aus, das das Schicksal ihr beschert hatte: in der Nähe von Ramses zu leben, an seiner Seite an offiziellen Zeremonien teilzunehmen, ihn über die Beiden Länder herrschen zu sehen
… Gab es denn etwas Schöneres?
Die Dienerin flocht das Haar der Königin, parfümierte es mit Myrrhe, dann setzte sie ihr eine kurze Perücke auf und zierte sie noch mit einem Diadem aus Perlen und Karneol.
»Vergib mir meine Vertraulichkeit, Majestät … Aber du siehst hinreißend aus!«
Iset lächelte. Für Ramses mußte sie schön bleiben, ihn so lange wie möglich vergessen lassen, daß ihre Jugend bereits dahin war.
Just als sie sich erhob, tauchte er auf. Kein Mann konnte sich mit ihm vergleichen, keiner besaß seine Klugheit, seine Kraft und sein stattliches Aussehen. Die Götter hatten ihn mit allem gesegnet, und er gab dieses Geschenk an sein Land weiter.
»Ramses! Ich bin noch nicht angekleidet.«
»Ich muß mit dir über eine ernste Angelegenheit reden.«
Vor einer solchen Prüfung war ihr schon lange bang.
Nefertari hatte zu regieren gewußt, sie, Iset, jedoch nicht. Daß 53
sie mithelfen sollte, das Staatsschiff zu lenken, erfüllte sie mit Angst und Schrecken.
»Deine Entscheidung wird schon richtig sein.«
»Du bist unmittelbar betroffen, Iset.«
»Ich? Aber ich schwöre dir, daß ich mich nirgendwo eingemischt habe, daß ich …«
»Es geht um dich und um den Frieden.«
»Erkläre dich deutlicher, ich bitte dich!«
»Hattuschili verlangt, daß ich seine Tochter heirate.«
»Eine Gemahlin als Zeichen der guten Beziehungen …
Warum denn nicht?«
»Er verlangt noch viel mehr: daß sie meine Große Königsgemahlin wird.«
Einen Moment stand Iset wie versteinert da, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Soeben war das Wunder zu Ende gegangen. Sie mußte das Feld räumen und ihren Platz an eine junge, hübsche Hethiterin abtreten, die zum Symbol für das herzliche Einvernehmen zwischen Ägypten und Hatti werden sollte. In dieser Waagschale wog Iset die Schöne weniger als eine Feder.
»Die Entscheidung liegt bei dir«, erklärte Ramses. »Bist du damit einverstanden, deine Stellung aufzugeben und dich zurückzuziehen?«
Die Königin antwortete ihm mit einem kläglichen Lächeln:
»Diese hethitische Prinzessin ist sicher sehr jung …«
»Ihr Alter spielt keine Rolle.«
»Du hast mich überaus glücklich gemacht, Ramses, und dein Wille ist der Wille Ägyptens.«
»Dann beugst du dich also.«
»Es wäre ein Verbrechen, den Frieden zu vereiteln.«
»Wie dem auch sei, ich werde mich nicht beugen! Der Pharao 54
von Ägypten läßt sich seine Entscheidungen nicht vom König von Hatti vorschreiben. Wir sind kein Volk von Barbaren, das Frauen wie minderwertige Geschöpfe behandelt. Welcher Herr der Beiden Länder
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