Im Schatten der Akazie
sammelte er sich in der Kapelle, in der die Seele seines Vaters aus jeder in die Wände gemeißelten Hieroglyphe sprach. Von Stille umgeben, nahm er die Stimme des vor langer Zeit zu den Sternen emporgestiegenen Pharaos wahr. Dann trat er in den großen Hof hinaus, den sanfter Sonnenschein überflutete, während die Sängerinnen und Musikantinnen in feierlichem Zug aus dem Säulensaal kamen. Als Merit-Amun ihren Vater erblickte, löste sie sich aus der Schar, ging auf ihn zu und verneigte sich vor 172
ihm.
Sie wurde Nefertari jeden Tag ähnlicher. Klar wie ein Frühlingsmorgen, spiegelte ihre Schönheit die Weisheit des Tempels wider. Ramses ergriff den Arm seiner Tochter, und gemeinsam schritten sie langsam durch die von Akazien und Tamarisken gesäumte Sphingenallee.
»Verschaffst du dir auch Kenntnis von den Ereignissen außerhalb des Tempels?«
»Nein, Vater. Du läßt die Maat herrschen, du kämpfst gegen Chaos und Finsternis. Ist das nicht die Hauptsache? Der Lärm der Welt draußen dringt nicht durch die Mauern des Heiligtums, und das ist gut so.«
»Deine Mutter hatte sich dieses Leben gewünscht, aber das Schicksal erlegte ihr ein anderes auf.«
»Warst nicht du der Herr über dieses Schicksal?«
»Der Pharao hat die Pflicht, in dieser Welt zu handeln, obgleich sein Denken in der Verschwiegenheit des Tempels verharrt. Heute heißt es für mich, den Frieden zu bewahren, Merit-Amun. Um das zu erreichen, werde ich die Tochter des Königs von Hatti heiraten.«
»Wird sie die Große königliche Gemahlin?«
»So ist es, aber ich komme nicht umhin, vor dieser Eheschließung mein zweites Fest der Erneuerung zu begehen.
Deshalb muß ich eine Entscheidung treffen, die erst durch deine Einwilligung Gültigkeit erlangt.«
»Du weißt, daß ich in der Führung des Landes keinerlei Rolle spielen möchte.«
»Das Ritual kann ohne die Mitwirkung einer ägyptischen Großen Königsgemahlin nicht vollzogen werden. Ist es zuviel verlangt, wenn ich dich bitte, diese symbolische Aufgabe zu übernehmen?«
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»Das heißt … Theben verlassen, mich nach Pi-Ramses begeben … Und danach?«
»Auch als Königin von Ägypten kannst du hierher zurückkehren und das Leben führen, das du dir erwählt hast.«
»Wirst du mir dann nicht immer häufiger weltliche Pflichten aufbürden?«
»Ich werde deine Hilfe nur für meine Feste der Erneuerung in Anspruch nehmen, die, wie Kha behauptet, alle drei oder vier Jahre begangen werden müssen, bis sich meine Lebenszeit endgültig erschöpft hat. Es steht dir frei, meine Bitte zu erfüllen oder sie abzulehnen, Merit-Amun.«
»Weshalb hast du mich dazu ausersehen?«
»Weil die Jahre der Andacht dir die geistige und magische Fähigkeit verliehen haben, eine erdrückende rituelle Aufgabe zu übernehmen.«
Merit-Amun blieb stehen und wandte sich zum Tempel von Kurna um.
»Du verlangst viel von mir, aber du bist der Pharao.«
Setaou brummte vor sich hin. Fernab von seinem geliebten Nubien, diesem Schlangenparadies, fühlte er sich wie in der Verbannung. Doch mangelte es ihm nicht an Arbeit. Mit Lotos’
Hilfe, die jede Nacht außerhalb der Stadt ansehnliche Kriechtiere aufspürte, hatte er der Forschungsstätte neuen Antrieb für die Zubereitung von Heilmitteln auf der Grundlage von Schlangengiften gegeben. Und auf Amenis Rat hin nutzte er diesen Aufenthalt in Pi-Ramses, um seine Kenntnisse als Verwalter zu vervollständigen. Mit zunehmendem Alter räumte Setaou ein, daß Begeisterung allein nicht ausreichte, die hohen Beamten zu überreden, ihm die Mittel zu bewilligen, die er für seine nubische Provinz brauchte. Ohne deshalb gleich ein Höfling zu werden, lernte er, seine Bittgesuche geschickter vorzutragen, und erzielte damit gute Ergebnisse.
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Als er aus dem Amt für die Handelsschiffahrt kam, wo man ihm soeben den Bau von drei Lastkähnen für Nubien genehmigt hatte, traf er Kha, dessen Miene nicht so gelassen wie sonst anmutete.
»Verdrießt dich etwas?« fragte Setaou.
»Die Vorbereitungen für dieses Fest erfordern stetige Aufmerksamkeit … Und ich erlebe eine unangenehme Überraschung nach der anderen. Der Aufseher über die Vorratshäuser des Gottes im Delta, von dem ich erwartet habe, daß er mir große Mengen an Sandalen, Leinenstoffen und Alabasterschalen liefern würde, kann mir so gut wie nichts geben. Das macht meine Aufgabe überaus schwierig.«
»Hat er Gründe dafür genannt?«
»Er befindet sich auf Reisen. Meine Bitte um Erklärungen hat
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