Im Schatten der Akazie
Jahren Herrschaft inne und sann über sein Handeln nach. Bislang war er stets vorangeschritten, hatte Hindernisse überwunden und die Grenzen zum Unmöglichen immer weiter hinausgeschoben. Obgleich seine Kraft kaum nachließ, betrachtete er die Welt nicht mehr wie ein Widder, der mit gesenkten Hörnern vorwärts stürmt, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer ihm folgt. Ägypten zu regieren hieß nicht, dem Land die Gesetze eines Menschen aufzuzwingen, sondern ihm den Odem der Maat einzuhauchen, deren oberster Diener der Pharao war. Als junger König hatte Ramses noch gehofft, er könnte Denkweisen verändern, ein ganzes Volk in sein Fahrwasser locken und es für immer von Engherzigkeit und Niedertracht befreien. Mit zunehmender Erfahrung hatte er diesem Traum entsagen müssen. Die Menschen blieben stets sie selbst, neigten zum Lügen und Betrügen, und keine Lehre, keine Religion, keine noch so kluge 187
Staatsführung würde je ihre Natur wandeln. Nur wenn er Gerechtigkeit übte und beständig die Gesetze der Maat anwandte, konnte er verhindern, daß sich das Chaos ausbreitete. Ramses hatte sich bemüht, zu befolgen, was sein Vater Sethos ihn gelehrt hatte. Sein Wunsch, ein großer Pharao zu werden, der den Geschicken der Beiden Länder sein Siegel aufdrückte, zählte nicht mehr. Nachdem er alles Glück und die Höhen der Macht erlebt hatte, kannte er nur noch einen Ehrgeiz: Dienen.
Setaou war betrunken, trank aber weiter Oasenwein. Mit steifen Beinen schritt er in dem Gemach auf und ab.
»Schlafe nicht ein, Lotos! Jetzt ist keine Zeit zum Ausruhen.
Wir müssen nachdenken und einen Entschluß fassen.«
»Seit Stunden sagst du immer dasselbe!«
»Und du tätest gut daran, mir zuzuhören, ich rede nicht gedankenlos daher. Du und ich wissen Bescheid. Wir wissen, daß Ameni käuflich und bestechlich ist. Ich verabscheue diesen kleinen Schreiber, ich verfluche ihn, ich möchte ihn in den Kesseln für die verdammten Seelen schmoren sehen … Aber er ist mein und Ramses’ Freund. Und solange wir Stillschweigen bewahren, wird er nicht wegen Diebstahls verurteilt.«
»Steht dieser Diebstahl nicht mit einer Verschwörung gegen Ramses in Zusammenhang?«
»Wir müssen nachdenken und einen Entschluß fassen …
Wenn ich zum König gehe … Nein, unmöglich! Er stimmt sich auf sein Fest der Erneuerung ein. Ich kann ihm diesen Augenblick nicht vergällen. Wenn ich zum Wesir gehe … Der läßt Ameni sofort festnehmen! Und du, du sagst gar nichts!«
»Schlafe ein wenig, danach kannst du besser denken.«
»Denken allein reicht nicht, wir müssen einen Entschluß fassen! Und dazu darf man nicht schlafen. Ameni … Was hast 188
du nur getan, Ameni!«
»Endlich die richtige Frage«, bemerkte Lotos.
Setaou, trotz seiner zitternden Hände steif wie eine Statue, sah die Nubierin erstaunt an.
»Wie meinst du das?«
»Bevor du dir das Hirn zermarterst, frage dich einmal, was Ameni wirklich getan hat.«
»Das ist doch klar, der Kapitän des Lastkahns hat es ja zugegeben. Es findet ein unerlaubter Handel statt, und der führende Kopf ist Ameni. Mein Freund Ameni!«
Serramanna schlief allein. Nach einem anstrengenden Tag, in dessen Verlauf er die Sicherheitsvorkehrungen rund um den Tempel der Erneuerung überprüft hatte, war er auf sein Bett gesunken, ohne auch nur an den herrlichen Leib seiner derzeitigen Geliebten zu denken, einer jungen Syrerin, die so geschmeidig war wie ein Schilfrohr.
Plötzlich weckten ihn Schreie.
Mit großer Mühe tauchte der sardische Riese aus tiefstem Schlummer auf, schüttelte und reckte sich, dann stürmte er auf den Flur hinaus, wo sein Hausverwalter mit einem sichtbar bezechten Setaou rang.
»Man muß ermitteln, sofort!«
Serramanna schob den Verwalter beiseite, packte Setaou an seinem Gewand, zog ihn in das Schlaf gemach und schüttete ihm den Inhalt eines Kruges über den Kopf.
»Was ist das?«
»Wasser, das du anscheinend seit einer Weile zu trinken vergessen hast.«
Setaou ließ sich auf das Bett sinken.
»Ich brauche dich.«
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»Wer ist jetzt wieder deinen verdammten Schlangen zum Opfer gefallen?«
»Es muß ermittelt werden.«
»Worum geht es denn?«
Setaou zögerte ein letztes Mal, dann brach es aus ihm heraus.
»Um das Vermögen von Ameni.«
»Wie bitte?«
»Ameni besitzt ein geheimes Vermögen.«
»Was hast du getrunken, Setaou? Das muß ja schlimmer sein als Schlangengift.«
»Ameni besitzt ein Vermögen, das er widerrechtlich erworben hat … Und es
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