Im Schatten der Akazie
Statue magisches Leben.
Drei Tage lang lösten feierliche Umzüge, Gebete und Gesänge sowie Opferrituale einander im großen Hof ab, in dem die Götter und Göttinnen in ihren Kapellen zugegen waren, den heiligen Raum begrenzten und ihre Kraft verströmten. Bald in rascher Folge, bald andächtig gemessen, gliederten die Klänge der Tamburine, Harfen, Lauten und Oboen das Geschehen, das in allen Einzelheiten auf dem Papyrus festgelegt war, den der Ritualpriester entrollte.
Der Pharao nahm die Seele der Gottheiten in sich auf, hielt Zwiesprache mit dem Stier Apis und mit dem Krokodil Sobek, schleuderte die Harpune, mit der er das Flußpferd daran hinderte, Schaden anzurichten, und knüpfte auf diese Weise Bande zwischen dem Jenseits und dem Volk Ägyptens. Durch sein Eingreifen wurde das Unsichtbare sichtbar und entstand eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Natur.
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In einem angrenzenden Hof war ein Podest errichtet worden, auf dem zwei Thronsessel nebeneinander standen. Um sie zu erreichen, mußte Ramses einige Stufen hinaufsteigen. Als er sich auf den Thron Oberägyptens setzte, trug er die weiße Krone, auf dem Unterägyptens die rote. So wurden die Beiden Länder in ihrer scheinbar unüberwindlichen Gegensätzlichkeit durch das Wesen des Pharaos zu einer Einheit, ohne miteinander zu verschmelzen. Indem er abwechselnd auf dem einen und auf dem anderen Thron saß, war Ramses einmal Horus mit dem scharfen Blick und einmal Seth mit der unerreichbaren Macht, aber stets das Bindeglied, das die beiden miteinander aussöhnte.
Am vorletzten Tag des Festes legte der König sein weißes hemdartiges Gewand ab und bekleidete sich wieder mit dem traditionellen Schurz, den schon die Herrscher zur Zeit der Pyramiden getragen hatten und an dem ein Stierschwanz hing.
Damit war der Augenblick gekommen, da es zu prüfen galt, ob der regierende Pharao die Energie der Götter ohne Fehl in sich aufgenommen hatte und imstande war, von Himmel und Erde Besitz zu ergreifen.
Da er den geheimnisvollen Gegensatz zwischen den von alters her verfeindeten Brüdern Horus und Seth durchlebt hatte, war der Pharao befähigt, aufs neue das Vermächtnis der Götter in Empfang zu nehmen, das ihn zum Erben Ägyptens machte.
Als sich Ramses’ Finger um das kleine,
schwalbenschwanzförmige Lederfutteral schlossen, das die unschätzbare Schrift enthielt, wurde allen schwer ums Herz.
War die Hand eines Menschen, und sei es der Herr der Beiden Länder, je imstande, sich eines übernatürlichen Gegenstandes zu bemächtigen?
Doch er hielt das Testament der Götter fest in einer Hand und ergriff mit der anderen ein Steuerruder, zum Zeichen dafür, daß es ihm oblag, das Staatsschiff in die richtige Richtung zu lenken. Dann durchmaß er mit langen Schritten den großen 196
Hof, der ganz Ägypten als Widerschein des Himmels auf Erden symbolisierte. Viermal – einmal in jede Himmelsrichtung –unternahm er den rituellen Lauf als König von Unterägypten und viermal als König von Oberägypten. So wurden die Provinzen der Beiden Länder durch die Schritte des Pharaos verklärt, der die Herrschaft der Götter und die Gegenwart der himmlischen Ordnung bekräftigte. Er verlieh allen verstorbenen Pharaonen neues Leben, und durch ihn wurde Ägypten zum fruchtbaren Boden für das Göttliche.
»Ich bin gelaufen und habe das Testament der Götter in Händen gehalten«, verkündete Ramses. »Ich habe die ganze Welt durchmessen und die vier Horizonte berührt. Ich bin auf meinem Weg meinem Herzen gefolgt. Ich habe das Urmeer durchquert, ich habe die vier Horizonte des Himmels berührt, ich bin so weit gegangen wie das Licht, und ich habe das fruchtverheißende Land seiner Herrin dargeboten, der Ordnung, die alles Leben bestimmt.«
Am letzten Tag des Jubiläumsfestes rüsteten sich Städte und Dörfer für ihre Freudenfeiern. Man wußte, daß Ramses den Sieg davongetragen hatte und seine Kraft zum Herrschen erneuert worden war. Der Jubel konnte indes erst ausbrechen, sobald der König seinem Volk das Testament der Götter gezeigt hatte.
Im Morgengrauen nahm Ramses in einer Sänfte Platz, die von den Großen Ober- und Unterägyptens getragen wurde.
Ameni tat zwar der Rücken weh, doch ihm lag daran, seine beschwerliche Pflicht zu erfüllen. Der Pharao spannte einen Bogen und schoß Pfeile in die vier Himmelsrichtungen, um dem gesamten Weltall kundzutun, daß er weiterhin regieren werde.
Danach bestieg der Herrscher einen Thron, dessen Sockel mit
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