Im Schatten der Akazie
Falten.
230
»Aber … was gedenkst du zu tun?«
»Ich werde Ramses benachrichtigen. Er allein vermag etwas dagegen zu unternehmen.«
Kha breitete auf dem Arbeitstisch seines Vaters drei lange Papyrusrollen aus, die er in den Archiven im Haus des Lebens von Heliopolis aufgestöbert hatte.
»Die Schriften lassen keinen Zweifel zu, Majestät. Ein einziger Gott herrscht über das Klima in den Ostländern: Seth.
Aber keine Gemeinschaft von Magiern ist dazu befähigt, mit ihm unmittelbare Verbindung aufzunehmen. Dir, und zwar dir allein, kommt es zu, mit ihm Zwiesprache zu halten, damit er die Jahreszeiten wieder zurechtrückt. Allerdings …«
»Sprich, mein Sohn.«
»Allerdings bin ich einem solchen Unterfangen äußerst abhold. Seths Macht ist gefährlich und unbezähmbar.«
»Befürchtest du, ich könnte ihm nicht gewachsen sein?«
»Du bist zwar Sethos’ Sohn, aber um das Wetter zu verändern, muß man Blitz, Donner und Sturm lenken … Dabei ist Seth unberechenbar. Und Ägypten braucht dich. Schicken wir mehrere Götterstatuen und eine Karawane mit Wasser und Nahrungsmitteln nach Syrien.«
»Glaubst du, Seth gestattet ihnen, ans Ziel zu gelangen?«
Kha senkte den Kopf.
»Nein, Majestät.«
»Dann läßt er mir also gar keine Wahl. Entweder ich trage in dem Kampf den Sieg davon, oder Merenptah, die hethitische Prinzessin und all ihre Gefährten verdursten.«
Ramses’ erstgeborenem Sohn fiel kein Einwand ein, den er seinem Vater hätte entgegenhalten können.
»Falls ich aus dem Tempel des Seth nicht zurückkehre«, 231
sagte der Pharao zu Kha, »dann sei du mein Nachfolger und verschreibe dein Leben Ägypten.«
Die hethitische Prinzessin, die in den Gemächern des Festungskommandanten untergebracht war, verlangte Merenptah zu sprechen. Wiewohl er sie für rastlos und herrisch hielt, behandelte er sie mit der Achtung, die einer Dame von hohem Rang gebührte.
»Weshalb brechen wir nicht unverzüglich nach Ägypten auf?«
»Weil das bei diesem Wetter nicht möglich ist, Prinzessin.«
»Das Wetter ist doch wunderbar.«
»Wir haben Dürre in einer Jahreszeit, in der es regnen müßte, und es mangelt uns an Wasser.«
»Wir werden ja wohl nicht in dieser gräßlichen Festung Wurzeln schlagen!«
»Der Himmel ist gegen uns, es ist ein göttlicher Wille, der uns hier festhält.«
»Sind eure Magier so unfähig?«
»Ich habe den größten unter ihnen angerufen: Ramses selbst.«
Die Prinzessin lächelte.
»Du bist ein kluger Mann, Merenptah. Ich werde meinem Gemahl von dir berichten.«
»Hoffen wir, Prinzessin, daß der Himmel unsere Gebete erhört.«
»Ganz sicher! Ich bin nicht hierhergekommen, um zu verdursten. Gebietet der Pharao nicht über Himmel und Erde?«
Weder Setaou noch Ameni war es gelungen, den Herrscher umzustimmen. Zum Nachtmahl verzehrte Ramses ein Stück 232
Fleisch aus der Keule eines Ochsen, des Tieres, das Seths Kraft symbolisierte, und trank starken Wein aus den Oasen, der unter dem Schutz dieses Gottes stand. Dann reinigte er sich den Mund mit Salz, der Ausschwitzung des Seth, die jenes irdische Feuer in sich trug, das zum Haltbarmachen von Nahrungsmitteln unerläßlich war, und danach sammelte er sich vor der Statue seines Vaters, Sethos, der es gewagt hatte, sich durch seinen Namen zum Vertreter dieses furchterregenden Gottes auf Erden auszurufen.
Ohne Sethos’ Hilfe hatte Ramses keinerlei Aussicht, Seth zu bezwingen. Ein einziger Fehler, eine nicht richtig ausgeführte rituelle Gebärde oder ein abschweifender Gedanke, und ihn würde ein Blitzstrahl treffen. Angesichts der Macht in ihrem Urzustand wirkte nur eine Waffe: die Lauterkeit. Diese Lauterkeit, die Sethos ihn gelehrt hatte, als er ihn in die Aufgaben eines Pharaos einweihte.
Um Mitternacht betrat der König den Seth-Tempel, dessen Grundmauern schon in Auaris gestanden hatten, der verhaßten Hauptstadt der Hyksos. Er war eine Stätte der Stille und der Einsamkeit, eine Stätte, die allein der Pharao betreten konnte, ohne fürchten zu müssen, augenblicklich vernichtet zu werden.
Vor Seth mußte man die Angst überwinden, dann einen unerschrockenen Blick auf die Welt werfen, ihre Gewalttätigkeit und Verzerrungen erkennen und zur Kraft des Ursprungs werden, im Herzen des Weltalls, wohin menschliche Klugheit nicht mehr vordrang.
Auf dem Altar brachte Ramses eine Schale Wein und eine kleine Oryxantilope aus Akazienholz dar. Da ihr die Flamme des Seth innewohnte, konnte die Oryxantilope der Gluthitze der
Weitere Kostenlose Bücher