Im Schatten der Akazie
werden, daß sie die Erinnerung an Nefertari auslöschte.
»Majestät«, flüsterte ihre Leibdienerin, »ich glaube … ich glaube, der Pharao ist im Garten.«
»Geh nachsehen, und wenn er es wirklich ist, komm sofort zurück!«
Weshalb hatte Ramses ihr nicht Bescheid gesagt? Um diese Zeit, am späten Vormittag, gönnte sich der Herrscher für gewöhnlich keine Ruhepause. Welches außerordentliche Ereignis rechtfertigte diese Ausnahme?
Aufgeregt kehrte die Leibdienerin wieder.
»Es ist wirklich der Pharao, Majestät.«
»Und … ist er allein?«
»Ja, er ist allein.«
»Gib mir mein leichtestes und schlichtestes Kleid.«
»Willst du nicht das aus feinem Linnen, das mit der roten Stickerei und …«
»Beeile dich!«
»Welchen Schmuck möchtest du?«
»Gar keinen.«
»Und … Welche Perücke?«
»Keine Perücke. Jetzt beeile dich doch endlich!«
Gleich einem Schreiber saß Ramses unter einer Sykomore mit ausladender Krone, glänzenden Blättern sowie grünen und roten Früchten. Er war mit dem traditionellen Schurz bekleidet, 258
wie ihn schon die Pharaonen des Alten Reiches getragen hatten, in jener Zeit, da die Pyramiden erbaut wurden. Zwei goldene Armreife schmückten seine Handgelenke.
Die Hethiterin beobachtete ihn.
Zweifellos sprach er mit jemandem.
Auf nackten Sohlen schlich sie näher, während ein leichter Wind im Laub der Sykomore rauschte. Verblüfft entdeckte die junge Frau, mit wem der Herrscher sprach: mit Wächter, seinem Hund, der auf dem Rücken lag.
»Majestät …«
»Komm her, Maat-Hor!«
»Du hast gewußt, daß ich hier bin?«
»Dein Duft hat dich verraten.«
Sie setzte sich neben Ramses. Wächter rollte sich auf die Seite, dann nahm er die Haltung eines Sphinx ein.
»Du … du hast dich mit diesem Tier unterhalten?«
»Alle Tiere reden. Wenn sie uns so nahe stehen, wie mir mein Löwe stand und wie dieser Hund, einer aus einer ganzen Dynastie von Wächtern, dann haben sie uns sogar eine Menge zu erzählen, wir müssen nur imstande sein hinzuhören.«
»Was erzählt er dir denn?«
»Er verheißt mir Treue, Vertrauen und Aufrichtigkeit, und er beschreibt mir die schönen Pfade des Jenseits, auf denen er mich führen wird.«
Maat-Hor verzog das Gesicht.
»Der Tod … Warum soll man von so Abscheulichem reden?«
»Nur Menschen begehen Abscheuliches. Der Tod ist ein einfaches Gesetz der Natur, und das Jenseits kann uns Vollkommenheit bescheren, wenn wir im Diesseits Gerechtigkeit geübt und im Sinne der Maat gelebt haben.«
Maat-Hor rückte näher zu Ramses, und ihre schönen 259
schwarzen Augen blickten ihn voller Bewunderung an.
»Hast du nicht Angst, daß dein Kleid schmutzig wird?«
»Ich bin doch noch nicht richtig angezogen, Majestät.«
»Ein strenges Kleid, kein Schmuck, keine Perücke …
Weshalb solche Schlichtheit?«
»Ist das ein Vorwurf, Majestät?«
»Du hast eine sehr hohe Stellung inne, Maat-Hor, du kannst dich nicht benehmen wie irgendeine beliebige Frau.«
Die Hethiterin war empört.
»Habe ich das jemals getan? Ich bin die Tochter eines Königs und nun die Gemahlin des Pharaos von Ägypten! Mein Leben war stets den Erfordernissen höfischen Zeremoniells und der Macht unterworfen.«
»Höfischen Zeremoniells gewiß, aber weshalb erwähnst du die Macht? Dir oblag doch am Hofe deines Vaters keinerlei Verantwortung.«
Maat-Hor kam sich ertappt vor.
»Ich war noch zu jung … Obendrein ist Hatti ein Staat, in dem die Armee entscheidenden Einfluß hat und Frauen deshalb als untergeordnete Wesen betrachtet werden. Hier ist alles anders! Hat die Königin von Ägypten nicht die Pflicht, ihrem Land zu dienen?«
Die junge Frau breitete ihr Haar über Ramses’ Knie.
»Fühlst du dich wirklich als Ägypterin, Maat-Hor?«
»Ich möchte nichts mehr von Hatti hören.«
»Willst du etwa deinen Vater und deine Mutter verleugnen?«
»Nein, das natürlich nicht … Aber sie sind sehr weit von mir entfernt.«
»Du machst zur Zeit eine schwere Prüfung durch.«
»Eine Prüfung? Aber nein, genau das habe ich mir immer gewünscht! Ich möchte nichts mehr von der Vergangenheit 260
hören.«
»Wie könnte man das Morgen vorbereiten, wenn man die Geheimnisse des Gestern nicht entschlüsselt hätte? Du bist noch jung, Maat-Hor, und dich treibt die Suche nach deinem inneren Gleichgewicht um. Es wird nicht leicht zu finden sein.«
»Meine Zukunft ist doch klar vorgezeichnet: Ich bin die Königin von Ägypten!«
»Herrschen ist eine Aufgabe, die sich Tag
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