Im Schatten der Gerechtigkeit
Himmels willen, denken Sie nach!«
»Wenn Sie wieder mal keinen Fall haben, dann probieren Sie’s doch mal mit der Krankenpflege«, gab sie zurück. »Sehen Sie mal, ob Sie das hinkriegen – und ob Sie dann noch Zeit zum Detektivspielen haben! Sie sind doch keinem Menschen von Nutzen außer als Detektiv – und was haben Sie herausgefunden?«
»Daß Geoffrey Taunton zur Gewalttätigkeit neigt, daß Nanette Cuthbertson hier im Krankenhaus war, daß sie allen Grund hatte, Prudence zu hassen und daß sie Kraft genug hat, um ein Pferd zu halten, dem so mancher Mann nicht Herr werden würde!« sagte er prompt.
»Das wissen wir doch schon eine Ewigkeit.« Sie wandte sich ab. »Es ist nützlich – aber es ist nicht genug.«
»Genau deswegen bin ich hier, Sie Dummkopf! Wenn es genug wäre, hätte ich nicht zu kommen brauchen!«
»Ich dachte, Sie wären hier, um zu jammern…«
»Ich jammere? Hören Sie mir denn überhaupt zu?« Er wußte, er war ungerecht, fuhr aber trotzdem fort: »Was ist mit den anderen Schwestern? Einige von ihnen müssen sie doch gehaßt haben. Sie war arrogant, despotisch und eigensinnig. Einige von ihnen sehen mir kräftig genug aus, um einen Wagen zu ziehen.«
»So arrogant, wie Sie denken, war sie nun auch wieder…«, begann sie.
Er lachte scharf. »Nach Ihren Maßstäben vielleicht nicht, ich dachte an die der Schwestern!«
»Was wissen Sie schon von deren Maßstäben«, sagte sie voller Verachtung. »Sie ermorden doch keinen, nur weil er Ihnen hin und wieder auf die Nerven geht.«
»Es sind schon viele ermordet worden, weil sie Nervensägen oder Tyrannen waren, die andere beleidigt und gedemütigt haben«, widersprach er ihr. »Dazu braucht es nur einen einzigen Augenblick, in dem einem der Geduldsfaden reißt, weil man es einfach nicht mehr ertragen kann.« Wie ein Stich überkam ihn die Sorge um sie, fast wie eine Vorahnung. »Und genau deshalb sollten Sie hier sehr vorsichtig sein, Hester.«
Überrascht sah sie ihn an; dann begann sie zu lachen. Zuerst war es nur ein Kichern, das jedoch zu einem gewaltigen Heiterkeitsausbruch anschwoll.
Einen Augenblick lang flammte der Zorn in ihm auf, dann wurde ihm klar, wieviel ihm daran lag, nicht mit ihr zu streiten. Er weigerte sich jedoch, in ihr Gelächter mit einzustimmen. Er wartete mit einem Ausdruck resignierter Geduld.
Schließlich rieb sie sich, herzlich unelegant, die Augen mit dem Handballen und hörte zu lachen auf. Sie zog die Nase hoch.
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach sie. »Vielen Dank für Ihre Sorge.«
Er holte schon Luft, um sie anzublaffen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Wir haben Kristian Beck noch nicht unter die Lupe genommen. Ich weiß nicht, was Prudence der Krankenhausleitung sagen wollte, als er sie bat, das zu unterlassen.« Ein neuer Gedanke kam ihm, der ihm schon längst hätte kommen können. »Ich frage mich, wen sie damit wohl gemeint hat? Den Verwaltungsrat – oder Sir Herbert.«
Hester sagte nichts. Die Müdigkeit kehrte auf ihr Gesicht zurück.
»Gehen Sie wieder schlafen«, sagte er sanft und legte ihr instinktiv eine Hand auf die Schulter. »Ich werde mal mit Rathbone sprechen. Wir haben noch einige Tage Zeit. Vielleicht finden wir ja noch etwas heraus.«
Sie lächelte, aber in diesem Lächeln war eine Wärme, ein Verständnis und eine Anteilnahme, die keiner Worte bedurfte. Sie streckte die Hand aus und berührte einen Augenblick sein Gesicht mit den Fingerspitzen, dann drehte sie sich um und ging in den Schlafsaal zurück.
Er hatte keine große Hoffnung, daß Sir Herbert viel über Kristian Beck wüßte; andernfalls hätte er sich längst über ihn geäußert. Allerdings war es durchaus vorstellbar, daß er ihm sagen könnte, wem ein Vorfall zu melden war – dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats vielleicht? Insgesamt sah der Fall ganz und gar nicht gut aus. Er hing ganz und gar von Rathbones Geschicklichkeit und den Launen der Geschworenen ab. Hester war keine große Hilfe gewesen. Und dennoch verspürte er ein merkwürdiges Glück, als wäre er nie weniger alleine gewesen als jetzt.
Tags darauf, bei der ersten Gelegenheit, tauschte Hester ihren Dienst mit einer der Schwestern und besuchte Edith Sobel und Major Tiplady. Sie begrüßten sie mit großer Freude und einiger Aufregung.
»Wir wollten Ihnen schon eine Nachricht zukommen lassen«, sagte der Major ernst, während er sie zu einem chintzbezogenen Sessel führte, als wäre sie alt und behindert. »Wir haben etwas für
Weitere Kostenlose Bücher