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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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hoch … und taumelte, als die tauben Beine unter mir nachzugeben drohten. Estrada bot mir den Arm an, um mich zu stützen, und ich nahm ihn. Ihr Verhalten erschien mir ausgesprochen großzügig einem mutmaßlichen Feind – sogar einem möglichen Mörder – gegenüber. Ich überlegte, wie echt ihr Argwohn sein mochte und wie viel davon nur Vorsicht war, die auf besondere Umstände zurückging.
    Draußen wartete Mounteban und warf mir einen finsteren Blick zu. »Habe ich nicht gesagt, dass er alles leugnen würde?«
    »Vielleicht weil er unschuldig ist.«
    »Vielleicht.«
    Wir standen in einem niedrigen Tunnel, in dem schwarze Balken die Decke stützten, wie in einem alten Bergwerksstollen. Estrada hob die Lampe und wandte sich nach links. Ich folgte ihr, und Mounteban setzte sich ebenfalls in Bewegung, blieb dabei dicht hinter mir. Bald gelangten wir zu einer Abzweigung, wo es erneut nach links ging, durch einen noch niedrigeren und schmaleren Tunnel, der viele Kurven beschrieb. Seinem Verlauf folgten wir eine ganze Weile, bis er schließlich in einer Sackgasse zu enden schien. Doch die Dunkelheit enthielt eine Leiter, und über sie verschwand Estrada nach oben. Als ich zögerte, knurrte Mounteban hinter mir: »Nun mach schon, Damasco.«
    Die Leiter war stabiler, als sie aussah. Was nicht viel bedeutete. Unter dem Gewicht von uns dreien zitterte und schwankte sie bei jeder noch so kleinen Bewegung. Der Aufstieg dauerte ziemlich lange, und Estradas Körper schirmte dabei das Licht der Laterne ab, wodurch ich in tiefer Dunkelheit nach oben klettern musste. Als wir schließlich das Ende der Leiter erreichten, taten mir wieder alle Muskeln weh, und auch mit meinen Nerven stand es nicht zum Besten.
    Wir befanden uns in einem weiteren Tunnel, der allerdings natürlichen Ursprungs zu sein schien und in dem Licht von phosphoreszierendem blauem Schimmel kam, der hier und dort an der Decke wuchs. Estrada schloss eine Klappe über dem Loch, durch das wir gerade heraufgestiegen waren, und verriegelte sie. Dann führte sie uns durch den Tunnel, bis wir eine Verbindungsstelle erreichten, die groß genug war, um Höhle genannt zu werden. Ich erschrak, als eine schattenhafte Gestalt aus der Dunkelheit kam, doch dann erkannte ich sie als älteren Mann, der eine geflickte Lederrüstung trug. Er grüßte Estrada und fragte: »Wie läuft’s, Hauptmann?«
    »So gut, wie man es erwarten kann«, erwiderte sie. »Irgendwelche Nachrichten?«
    »Nichts Neues.«
    Sie nickte, und der Mann verschwand wieder in der Düsternis.
    Hauptmann? Ich erinnerte mich daran, einmal von einem Bürgermeister gehört zu haben, der die Bewohner seiner Stadt in Kriegszeiten anführen sollte. Aber damit konnte doch gewiss keine Frau gemeint sein, oder? Ich hatte Estradas Wahl immer für einen Scherz gehalten, und es war mir nie in den Sinn gekommen, dass andere dies vielleicht anders sahen. Sie als Hauptmann? Aber welche Erklärung gab es sonst dafür, dass ich sie auf dem Schlachtfeld gesehen hatte?
    Estrada war zur gegenüberliegenden Wand der Höhle gegangen, wo es eine niedrige Öffnung gab. Sie drehte sich um und sagte zu Mounteban: »Du wartest hier.« Als er den Eindruck machte, widersprechen zu wollen, fügte sie hinzu: »Keine Widerrede. Du kannst lauschen, wenn du willst.«
    Sie ließ sich auf Hände und Knie sinken und kroch durch die Öffnung. Mounteban winkte ungeduldig, als ich ihr nicht sofort folgte, und ich spürte den Blick des älteren Wächters im Nacken. Ich gab mir einen Ruck, sank ebenfalls auf alle viere und kroch durch das Loch.
    Die kurze Reise war schlimmer als der Aufstieg über die Leiter. Ich konnte den Kopf nicht heben, ohne dass er über rauen Fels schrammte, und das Gestein unter meinen Händen war uneben und kantig. Beides fühlte sich kalt und feucht an, und wieder war ich inmitten tiefer Finsternis unterwegs. Es erleichterte mich immens, dass sich Estradas Gestalt vor mir in einem vagen Grau abzeichnete, und dieses Grau wurde nach und nach heller, bis Estrada schließlich zur Seite wich und mir Mondschein entgegenstrahlte. Dankbar kletterte ich ihm entgegen, und wenn mich die Bürgermeisterin nicht am Ellenbogen festgehalten hätte, wäre ich von der Klippe gefallen.
    Denn dort waren wir aus dem Tunnel geklettert: schwindelerregend hoch auf einer Klippe, auf einem schmalen Vorsprung, mit Blick über das östliche Castoval. Direkt unter uns sah ich Muena Palaiya; vereinzelt waren Lichter von Laternen und Fackeln zu

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