Im Schatten der Giganten: Roman
einen weiten Weg durch unterirdische Tunnel schleppen, nur damit ich, ohne ein erklärendes Wort, in irgendeinem finsteren Loch verhungerte oder verdurstete?
Doch ich muss sagen, dass ich mich nach diesem unerquicklichen Gedanken weniger wohlfühlte. Sofort begann meine beunruhigte Phantasie, weitere unliebsame Theorien zu entwickeln. Vielleicht sollte ich Moaradrid für ein Lösegeld übergeben werden, oder man hielt mich fest, weil es einer meiner alten Feinde auf mich abgesehen hatte. Es gab Lücken in allen diesen Erklärungen, was mich jedoch nicht daran hinderte, immer besorgter zu werden.
Als ich auf der anderen Seite der Tür Schritte hörte, war ich richtig erleichtert und spitzte die Ohren. Zwei Personen näherten sich, eine ein ganzes Stück schwerer als die andere – vermutlich Mounteban und sein mysteriöser Komplize. Ich war ein wenig überrascht, als die schwereren Schritte ein Stück vor der Tür innehielten, während sich die leichteren fortsetzten und erst direkt vor der Tür verharrten. Eine leise, hohe Stimme sagte etwas, das ich nicht verstand.
»Trotzdem«, erwiderte Mounteban. »Du solltest vorsichtig sein.«
»Vielleicht. Aber er ist doch nur ein einfacher Dieb.«
Ein Klappern, als erst ein Riegel beiseitegeschoben wurde und dann ein zweiter, übertönte den nächsten Wortwechsel. Ich hörte nur, wie Mounteban »… dann warte hier« sagte.
Dann schwang die Tür nach innen auf. Die Öffnung in der Wand war so klein, dass sich selbst die Gestalt mit dem Kapuzenmantel ducken musste, um hereinzukommen. In der einen Hand trug sie noch immer eine Laterne, deren rötlicher Schein die Schatten nur etwas dämpfte und in die Länge wachsen ließ.
»Das mit dem ›nur ein einfacher Dieb‹ gefällt mir nicht«, sagte ich. »Mein Selbstwertgefühl leidet darunter.«
»Wenigstens gibst du zu, ein Dieb zu sein.«
»Von Zeit zu Zeit bin ich Aktivitäten nachgegangen, die für einen unbedarften Beobachter vielleicht wie Stehlen ausgesehen haben.«
»Wir würdest du es nennen?«
»Ich habe mir meinen Lebensunterhalt verdient.«
Die Gestalt im Kapuzenmantel lachte. Es war ein angenehmes Geräusch in einer so düsteren Umgebung. »Na ja, vielleicht bist du mehr als ein ›einfacher Dieb‹. Wir werden sehen.«
Der Fremde hob die Hände zur Kapuze und strich sie zurück. Ich sah ein schmales Gesicht im Lampenschein, einen weichen Mund, große dunkle Augen und eine dichte Mähne aus noch dunklerem Haar, das bis über die Schultern reichte.
Ich starrte mit offenem Mund. »Du bist eine Frau«, brachte ich schließlich hervor.
»Ich beglückwünsche dich zu dieser Erkenntnis.«
»Und ich sehe dich nicht zum ersten Mal. Du warst gestern auf dem Schlachtfeld«, sagte ich und vergaß dabei, dass ich meine eigene Präsenz an diesem Ort geheim halten wollte. Das Erinnerungsbild zeigte sich mir mit plötzlicher Klarheit: der Reiter an der Spitze der fliehenden castovalanischen Streitmacht, mit über den Schultern wehendem schwarzem Haar. Plötzlich wurde mir klar, dass der Mann neben ihr Castilio Mounteban gewesen war. »Ich glaube sogar, dass ich dich bereits früher gesehen habe.«
»Marina Estrada«, stellte sie sich vor und deutete eine Verbeugung an.
Von einem Augenblick zum anderen passte alles zusammen.
»Du bist die Bürgermeisterin. Die Bürgermeisterin von Muena Palaiya.«
»Und du bist Easie Damasco, einstiger Bewohner meiner schönen Stadt und später ein Ärgernis für viele Menschen im Castoval. Vor kurzer Zeit hast du es fertiggebracht, auf der Seite unseres Feindes Moaradrid gegen deine eigenen Landsleute zu kämpfen.«
Mein Mund war plötzlich trocken. Estrada schien bestens informiert zu sein. Plötzlich war Mountebans Behauptung, alles zu wissen, ein ganzes Stück glaubwürdiger. »Man hat mich dazu gezwungen.«
»Das halte ich für wahrscheinlich. Du hattest es ziemlich eilig, dich von der Truppe zu entfernen, mit mehr als nur einem Objekt, das nicht dir gehörte. Seitdem zeigt Moaradrid großes Interesse an deinem Aufenthaltsort.«
Sie trat einen Schritt näher. Als sie erneut sprach, war ihre Stimme so fest und scharf, dass es mich nicht mehr wunderte, sie mit der eines Mannes verwechselt zu haben. »Du bist nur ein kleiner Teil eines größeren Bildes.«
»Das habe ich schon von Mounteban gehört. Für mich bin ich ein großer Teil eines Bildes, das nur wenig größer ist als ich selbst.«
Estrada lachte erneut, aber diesmal klang es weniger schön und weitaus humorloser.
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