Im Schatten der Giganten: Roman
erkennen. Größere Feuer brannten in einem Dreieck vor dem nördlichen Tor, und in ihrem gelben Schein zeigten sich die Silhouetten von Zelten.
Estrada folgte meinem Blick und deutete zum Lager. »Dort hält Moaradrid deinen Freund fest.«
»Meinen Freund?«
»Den Riesen, mit dem du unterwegs gewesen bist.«
»Oh. Ich würde ihn nicht unbedingt als Freund bezeichnen.«
»Nein?«, fragte Estrada mit deutlicher Missbilligung.
»Wie dem auch sei, es ist bestimmt alles in Ordnung mit ihm. Er wird auf seine einsilbige Art erklären, dass alles meine Schuld ist, und dann bringen sie ihn zu seinen wahren Freunden zurück.«
»Selbst wenn das geschähe …«, sagte Estrada. »Es würde nicht zu unseren Plänen passen.«
»Schon wieder die geheimnisvollen Pläne. Warum sind wir den ganzen weiten Weg hierher gekommen, wo ich doch in der warmen kleinen Höhle schlafen könnte?«
Estrada sah mich an, als weigerte ich mich ganz bewusst, das Offensichtliche zu erkennen. »Weil du den Riesen wohl kaum befreien kannst, wenn du in einer Zelle steckst, oder?«
8
I ch beobachtete das Lager vor der Stadt.
Die Nacht war klar, der Mond schien hell, und wenn ich mich konzentrierte, konnte ich die einzelnen Zelte erkennen, die Olivenbäume zwischen ihnen und sogar einzelne Wächter, wenn sie an einem Feuer vorbeigingen oder durch einen vom Mondschein erhellten Bereich marschierten.
Nichts deutete darauf hin, wo Salzleck festgehalten wurde. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie ein Zelt an ihn vergeudeten oder ihn in die Nähe eines Feuers ließen. Wahrscheinlich war er irgendwo festgebunden worden. Ich bezweifelte, dass er noch einmal den Mumm aufbrachte zu fliehen, aber Moaradrid kannte bestimmt nicht die Umstände seiner letzten Flucht, und trotz meiner früheren Behauptung glaubte ich nicht, dass Salzleck mir die Schuld geben würde. Dazu hätte er zu viele Worte aneinanderreihen müssen, und so etwas behagte ihm ganz und gar nicht, wie ich wusste.
Ich bemerkte eine unregelmäßig geformte dunkle Stelle, die kein Zelt und auch kein Baum sein konnte, obwohl ich so etwas wie Zweige zu erkennen glaubte. Irgendetwas an der undeutlichen Silhouette erschien mir vertraut. Ich hielt den Blick darauf gerichtet, blendete alles andere aus und versuchte, weitere Einzelheiten zu erkennen. Als sich der Schemen plötzlich bewegte, erschrak ich so sehr, dass ich heftig zusammenzuckte.
Ich streckte den Arm aus. »Das ist er, nicht wahr? Bei dem großen Baum?«
Estrada nickte.
»Es ist aussichtslos – er befindet sich mitten im Lager. Mindestens ein Dutzend Wächter patrouillieren dort, und bestimmt gibt es noch mehr Wachtposten. Es dürfte Moaradrid klar sein, dass er dort draußen verwundbar ist. Er muss mit einem Angriff rechnen.«
»Ja. Gestern hat er Reiter losgeschickt, die Verstärkung holen sollen. Morgen Abend wird sein halbes Heer hier sein.«
»Es ist unmöglich.«
»Du redest, als bliebe dir eine Wahl.« Estradas Stimme klang jetzt anders, kühl und unnachgiebig. »Mir gefällt es auch nicht, aber so ist es nun einmal. Wir möchten den Riesen da rausholen, und du hast vielleicht eine etwas größere Chance, ihn zu befreien, als andere. Wenn sie dich nicht töten, und wenn du nicht beschließt, dass du bei ihnen besser aufgehoben bist als bei uns … Dann vertrauen wir dir vielleicht.«
Das Sanfte war ganz aus Estradas Gesicht verschwunden. Zum ersten Mal wurde mir richtig klar, wieso man ihr gestattet hatte, Oberhaupt einer Stadt zu werden und sogar Männer in den Kampf zu führen. In diesem Moment erschien sie mir nicht weniger furchterregend als Moaradrid.
Sehr zu meiner Überraschung machte mich die Furcht mutig oder zumindest pragmatisch. »Vielleicht könnte ich zu ihm gelangen und ihn sogar losbinden. Aber wie sollen wir uns anschließend aus dem Lager schleichen? Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, Salzleck hat für unauffälliges Schleichen nicht unbedingt den richtigen Körperbau.«
Ein Teil der Strenge wich aus Estradas Zügen, und sie deutete ein Lächeln an. »Oh, mach dir deshalb keine Sorgen, Damasco. Wir werden bereit sein, wenn es so weit ist.«
Wenn mich diese vage Antwort beruhigen sollte, so verfehlte sie ihre Wirkung. So oder so, nette Plaudereien oder auch nur ruhige Diskussionen schienen in dieser Nacht nicht mehr möglich zu sein. Eigentlich war ich froh darüber. Je mehr Ausflüchte ich machte, desto mehr Zeit hatte ich, über das Bevorstehende nachzudenken. Wenn mir wirklich
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