Im Schatten der Giganten: Roman
keine Wahl blieb, war es vermutlich besser, keine Gedanken mehr daran zu verschwenden.
Doch es gab noch gewisse praktische Erwägungen. »Wie komme ich nach unten? Gehört Fliegen zu den Wundern, die du von mir erwartest?«
Estrada deutete nach rechts. Ein dicker Holzbalken ragte aus dem Fels bei der Tunnelöffnung. Daneben lag ein Seil und führte über den Mechanismus eines einfachen Flaschenzugs zu einer Rolle an der Felswand. Vermutlich handelte es sich um ein weiteres Relikt aus der Bergwerkszeit oder ein Werkzeug von Schmugglern, die sich bestimmt über eine Möglichkeit gefreut hätten, Waren an der hohen Felswand schnell nach oben oder nach unten zu bringen.
Natürlich wäre niemand auf den Gedanken gekommen, den Waren Menschen hinzuzufügen. »Soll das ein Witz sein?«
»Hast du einen besseren Vorschlag? Nein? Dann binde dir das Seil um die Taille.«
Ich zuckte die Schultern, kam der Aufforderung nach und dachte daran, dass ein schneller Tod unten auf dem Boden besser war als ein langsamer, qualvoller durch die Hände von Moaradrid. Allerdings ließ ich mir Zeit und ging vorsichtig zu Werke, mit dem Ergebnis, dass ein Dutzend feste Knoten meine Taille zierten, als ich schließlich fertig war. Estrada nahm das Seil, schlang es sich um den Leib, zog es stramm und ging in Position. »Ich sichere dich. Du kannst jetzt über den Rand treten.«
Ich hatte natürlich gewusst, dass dieser Moment kommen musste. Aber jetzt, da es wirklich so weit war, starrte ich Estrada so an, als hätte sie in einer fremden Sprache zu mir gesprochen, in einer, die nur Verrückte beherrschten.
»Runter mit dir, Damasco! Ich kann mit deinem Gewicht fertigwerden, glaub mir.«
Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Die Vernunft sagte mir, dass der Flaschenzug den größten Teil der Arbeit leisten würde, und außerdem: Diese Frau war imstande, ein Schwert auf dem Schlachtfeld zu schwingen, und das konnte ich von mir nicht behaupten. Trotzdem, es ist eine ganze Menge Vertrauen nötig, sein Leben in die Hände einer anderen Person zu legen, was auch immer die Vernunft behauptet.
Ich wagte mich näher zum Rand und blickte in die Tiefe. Das Ende der Felswand lag in tiefer Dunkelheit, wo sich nur die Umrisse von Büschen zeigten, sonst nichts. Das Kliff selbst sah ich deutlich genug, und während ich beobachtete, wie steil es nach unten führte, bekam ich ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend.
Ich schaute zu Estrada, die langsam die Geduld mit mir zu verlieren schien. Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte, entspannte sich ihrer nur ein bisschen. »Du kannst ganz beruhigt sein«, sagte sie. »In den letzten beiden Tagen hast du bewiesen, dass du zu überleben verstehst.«
Ich musste lachen, ich konnte nicht anders, aber es klang hysterisch und zu laut.
»So habe ich das bisher noch nicht gesehen«, sagte ich und machte einen Schritt ins Leere.
Für einen schrecklichen Moment fiel ich – dann spannte sich das Seil.
»Halte nach dem Paket Ausschau!«, rief Estrada von oben.
Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, und es war mir auch schnuppe, denn eine unangenehme Pendelbewegung hatte begonnen und brachte mich in gefährliche Nähe der Felswand. Als ich gerade anfing, mich daran zu gewöhnen, ging es wieder nach unten, zuerst ruckweise, als Estrada noch lernen musste, mit meinem Gewicht klarzukommen, dann gleichmäßiger. Die Pendelbewegungen dauerten an, ließen Feld und Himmel um mich rotieren, was meinen Orientierungssinn in Gefahr brachte – ich bekam das Gefühl, in alle Richtungen gleichzeitig zu fallen.
Als das Baumeln und Drehen schließlich aufhörte, bekam ich plötzlich Bodenkontakt, so plötzlich, dass ich aufschrie, obwohl es gar nicht wehtat. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich auf dem Rücken lag, mit den Beinen in der Luft und dem Kopf halb in einem Busch. Das Seil war noch gespannt und hielt meine Taille über dem Gras. Mir fiel ein, dass ich keine Möglichkeit hatte, das Seil durchzuschneiden, und wenn es gespannt blieb, konnte ich die Knoten nicht lösen. Vielleicht merkte es Estrada früher oder später, aber bis dahin wurden meine Gliedmaßen taub.
Voller Sorge starrte ich in die Düsternis, auf der Suche nach einem scharfkantigen Felsen, einem spitzen Stock oder irgendetwas, das mir dabei helfen konnte, das Seil zu durchtrennen. Stattdessen entdeckte ich das Paket, auf das Estrada hingewiesen hatte. Wenn ich nicht so verwirrt und sogar der Panik nahe gewesen wäre, hätte
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