Im Schatten der Giganten: Roman
er entscheiden.«
Estrada lächelte glückselig und betrat die Zelle. Hinter ihr schloss der Feldwebel die Tür so sanft wie möglich, während er gleichzeitig den Eindruck zu erwecken versuchte, sie entschlossen zufallen zu lassen.
Das Spektakel war vorbei, und ich wandte meine Aufmerksamkeit der Umgebung zu. Ich hatte schon schlimmere Zellen gesehen. Diese war einigermaßen sauber und enthielt nicht nur einen Eimer, sondern auch einen Haufen Stroh in der Ecke, das Salzleck offenbar für einen geeigneten Imbiss hielt; er machte sich sofort daran, es zu vertilgen. Es war nicht einmal völlig dunkel – ein bisschen Tageslicht kam über unseren Köpfen durch ein vergittertes Fenster in der Außenwand.
Was sich jedoch bald mehr als Fluch denn als Segen erwies. Das Fenster diente nicht etwa dem Zweck, dass wir uns ein wenig besser fühlten. Vielmehr gab es Passanten Gelegenheit, uns nach Belieben zu verspotten und zu bespucken, sollte ihnen der Sinn danach stehen. Wir befanden uns kaum fünf Minuten in der Zelle, als sich einige Jugendliche am Fenster einfanden, anzügliche Bemerkungen über Estrada machten und Salzleck verhöhnten. An einem besseren Tag hätte ich die Herausforderung angenommen, aber diesmal fehlte mir der Nerv dazu. Ich setzte mich in die Ecke, die am weitesten vom Fenster entfernt war, schlang die Arme um die Knie und starrte einfach nur, bis die Jugendlichen das Interesse verloren und gingen.
Als wir wieder allein waren, sagte ich zu Estrada: »Du weißt doch, wer der Hauptmann der Wache ist, oder?«
»Natürlich weiß ich das.«
»Und dein Plan sieht vor, ihn hierher zu holen? Wahrscheinlich will er selbst die Axt schwingen.«
»Es wird alles gut, Damasco.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
»Ja. Hab ein bisschen Vertrauen. Altapasaeda ist genau der richtige Ort dafür.«
Ich schwieg. Wahrscheinlich kannte sie Hauptmann Alvantes’ Ruf nicht annähernd so gut wie ich, aber welchen Sinn hatte es, jetzt darüber zu reden? Estrada würde bald merken, dass sich niemand darum scherte, ob sie Bürgermeisterin irgendeines abgelegenen Kaffs gewesen war. Einige Wochen in diesem Loch würden sie in jeder Hinsicht eines Besseren belehren.
Die Schatten der Gitterstäbe im Fenster hatten bei unserer Ankunft gerade durch die Zelle gereicht, und jetzt zeigten sie zu der Ecke, in der Salzleck noch immer Stroh mampfte. Es musste kurz nach Mittag sein, wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte. Es war warm genug in der Zelle, und wir hatten es nicht allzu unbequem. Vielleicht würde man uns bald etwas zu essen bringen. Oder man vergaß uns einfach. Vielleicht würde der Feldwebel sein Wort nicht halten, und Alvantes hielt diese Sache für unter seiner Würde. Vielleicht …
Ich hatte die schnellen Schritte im Flur gerade erst bemerkt, als auch schon die Tür aufsprang. Ich wich zur Seite, und als ich den Kopf hob, sah ich mich dem markanten Gesicht von Alvantes gegenüber, des Hauptmanns der Stadtwache von Altapasaeda. Er wirkte älter als bei unserer letzten Begegnung. Dünne Falten durchzogen seine kantige Kieferpartie, und hier und dort zeigte sich erstes Grau in seinem kurzen braunen Haar. Die Uniform spannte sich noch immer über breiten Schultern, und in den Augen funkelte der alte Enthusiasmus. Alvantes der Keiler, der Hammer von Altapasaeda … Natürlich wollte er sich persönlich mit dem berüchtigten Easie Damasco befassen.
Woraus sich die Frage ergab: Warum achtete er kaum auf mich? Sein Blick streifte mich nur, glitt über Salzleck und kehrte sofort zu Estrada zurück. »Marina.«
»Hauptmann.«
»Dies ist … bedauerlich. Ich habe mit meinen Männern gesprochen.«
»Sie konnten es nicht wissen.«
»Natürlich. Das habe ich berücksichtigt. Wie auch den Umstand, dass Ihr in solcher Gesellschaft unterwegs seid …« Bei diesen Worten sah er mich an, voller Abscheu. »Nun, Ihr versteht sicher, dass sich daraus Missverständnisse ergeben können.«
»Ja. Dennoch muss ich darauf hinweisen, dass Easie Damasco mein Reisegefährte ist und somit unter meinem Schutz steht.«
»Und …?« Alvantes nickte in Richtung Salzleck.
»Salzleck ebenfalls. Ohne seine Hilfe hätten wir es nicht bis hierher geschafft.«
Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass die dicken Lippen des Riesen ein Lächeln formten.
Alvantes wirkte alles andere als beeindruckt. »Das respektieren wir natürlich. Vorausgesetzt, der Dieb benimmt sich während seines Aufenthalts in der Stadt.«
Hier ging etwas
Weitere Kostenlose Bücher