Im Schatten der Giganten: Roman
vor sich, das ich nicht verstand. Die betonte Förmlichkeit zwischen Alvantes und Estrada sprach Bände, aber ich wusste nicht, was in diesen Bänden geschrieben stand. Dass Estrada hier als Flüchtling auftauchte, begleitet von einem Monstrum auf der einen Seite und einem gesuchten Verbrecher auf der anderen, war ihrer Glaubwürdigkeit eher abträglich. Doch ich fühl-te, dass es um mehr ging.
Wie dem auch sei, von mir aus konnten der Hauptmann und die Bürgermeisterin zusammen tanzen, wenn uns das aus der Zelle brachte. »Mein Verhalten wird tadellos sein«, sagte ich. »Ich hoffe, wir können alle Missverständnisse zwischen uns klären.«
Alvantes bedachte mich mit einem so hasserfüllten Blick, dass ich zusammenzuckte. »Zwischen uns hat es keine Missverständnisse gegeben. Wenn du auch nur einen Zeh an die falsche Stelle setzt, hilft dir kein Schutz dieser Welt.« Dann wandte er sich wieder an Estrada, als wäre nichts gewesen. »Sollen wir gehen? Seine Hoheit wartet.«
Unsere zweite Reise durch Altapasaeda war diskreter als die erste. Diesmal beschränkte sich unsere Eskorte auf zwei Wächter, und das war nur der Anfang. Irgendwie mieden die Blicke aller anderen Alvantes, und irgendwie wichen die Passanten beiseite, ohne dass sie zu erkennen gaben, den Hauptmann überhaupt bemerkt zu haben. Wir bekamen so wenig Aufmerksamkeit, als wären wir in einer Blase der Unsichtbarkeit unterwegs. Wenn für Alvantes jemals ein Berufswechsel nötig werden sollte, hätte er in Erwägung ziehen können, Taschendieb zu werden. Dieser Gedanke ließ mich laut lachen.
Unsere Route brachte uns kurz zum eleganten Teil des Marktviertels zurück, bevor wir den breiten Boulevard des Tausend-Götter-Wegs erreichten, die Hauptstraße des Tempelviertels.
Der Rest des Castoval stand den Religionen des Nordens mit ihren ebenso bizarren wie zahlreichen Gottheiten eher skeptisch gegenüber, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie spektakulär waren. Überall wölbten sich große Torbögen mit Blumengirlanden. In Stein gemeißelte Gestalten, halb Mensch und halb Tier, blickten herab, schwangen sonderbare Waffen, grinsten irre oder lächelten geheimnisvoll. Keinem Gebäude mangelte es an Säulen und anderen Verzierungen, in immer neuen Kombinationen angeordnet.
Es war überwältigend, und für mich kam es einer Erleichterung gleich, als wir den Boulevard verließen. Doch diese Erleichterung währte nicht lange. Voraus erhob sich ein Palast, und so prächtig all die Tempel auch gewesen sein mochten, ihre Pracht verblasste im Vergleich mit diesem Gebäude.
Dies war die Residenz des Prinzen Panchetto, einziger Sohn des Königs Panchessa, und seines nicht gerade kleinen Hofes. Es hieß, dass der König seinen hirnlosen Sohn mit diesem Palast von den Geschäften der Politik ablenken wollte – sollte er sich Belanglosigkeiten widmen, die seinem Temperament besser entsprachen. Wenn diese Gerüchte stimmten, so war die Ablenkung gut gewählt. Man konnte sich kaum vorstellen, dass es möglich war, von solch prunkvoller Herrlichkeit umgeben ernsten Dingen nachzugehen.
Alvantes führte uns nicht durchs kolossale Haupttor, sondern durch ein kleineres Kutschenportal auf der Seite. Zwei Turbane tragende Palastgardisten lösten die Wächter ab, die uns bis hierher begleitet hatten. Sie schritten vor uns durch lange Flure, deren Boden aus eierschalenfarbenem Marmor bestand, und ihre azurblauen Umhänge raschelten bei jedem Schritt. Treppenstufen führten zu einem offenen Hof hinauf, wo sich das Wasser von vier großen, mit Mosaiken geschmückten Springbrunnen in einem zentralen Becken sammelte. Dahinter erstreckten sich weitere Flure, jeder von ihnen so breit, dass es möglich gewesen wäre, nebeneinander zu gehen, mit Salzleck in unserer Mitte, ohne dass der Platz knapp wurde.
Wir blieben in einem Vestibül stehen, wo zwei weitere Gardisten warteten und mit ihren Hellebarden den Zugang zu einem Torbogen blockierten, der sich hinter einem Vorhang verbarg. Alvantes trat vor und führte ein kurzes, leises Gespräch mit dem Gardisten auf der linken Seite. Kurz darauf kamen die beiden Hellebarden nach oben.
Der Hauptmann winkte uns nach vorn. »Er hat mir gesagt, dass Seine Hoheit derzeit einen anderen Gast hat, euch aber trotzdem eine kurze Audienz gewährt.«
Estrada trat vor mir durch den Torbogen, und ich hörte, wie sie nach Luft schnappte. Behutsam schob ich den Vorhang beiseite, folgte ihr und erreichte einen Raum so groß wie
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