Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Zentrum, teilt es auf, reguliert es und macht es zur Fußgängerzone, kündigt den Bewohnern, und mit einem Mal findet man sich, sobald es Abend wird, am Set des Films I am Legend wieder. Ist doch klar, dass es keine Sicherheit geben kann, wenn es weit und breit keinen gibt, der einen schreien hört.
Sie hat noch einen halben Kilometer vor sich. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, wühlt sie in ihrer Tasche nach ihrem Geldbeutel und ihrem Schlüssel. Beides will sie sich in den BH stecken, damit sie, egal was geschieht, in ihren Wagen einsteigen und tanken kann, um nach Hause zu gelangen. Es ist eine alte Angewohnheit von ihr, seit sie als junge Erwachsene anonym in Stockwell Park Estate lebte, tagsüber Wohnanträge für Lambeth Council ausfüllte und am Abend ihre Kurse an der Open University machte. Sie ging damals nicht oft aus, aber wenn doch, dann sorgte sie jedes Mal dafür, dass sie– und nicht irgendein herumlungernder Junkie– alles bei sich hatte, was nötig war, um wieder in ihre Wohnung zu kommen.
Sie macht sich Gedanken über den unheimlichen kleinen Mann. Es sind immer Leute wie er, die die Aufmerksamkeit der Polizei erregen. Plagegeister, die sich im Schatten herumdrücken, Frauen belästigen, mit Spielzeugwaffen herumspielen und neuerdings im Internet » Communitys« finden, in denen sie ihre miesen kleinen Fantasien mit jemandem teilen können. Sie leben sie zwar nicht immer aus, verursachen ihren Mitmenschen aber Unbehagen, und das reicht oft schon. Die menschliche Natur lässt sich nicht ändern. Außenseiter haben es immer schwer. Sie sind beunruhigend.
Sie findet ihren Geldbeutel, genau dort, wo er sein sollte, im Reißverschlussfach ihrer Handtasche. Die Schlüssel dagegen haben sich aus dem Fach ins übliche Durcheinander gemogelt. Ihre Verdrossenheit steigt, während sie in den Untiefen herumwühlt und ein ums andere Mal etwas greift und wieder verliert. Wer ist er? Was hat er gewollt? Hätte ich es herausgefunden, wenn dieser andere Mann sich nicht eingemischt hätte? Vermutlich weiß er es selber nicht. Und ist einfach einer von diesen einsamen Irren, der glaubte, mir etwas ungeheuer Wichtiges mitteilen zu müssen.
Scheiße. Er verfolgt mich doch hoffentlich nicht schon wieder, oder doch?
Auf der Hälfte der Fore Street erreicht sie die Kreuzung am Marktplatz. Sie kann jetzt den kurzen Weg nehmen, noch einen halben Kilometer durch diese Ödnis weiter den Hügel hinauf bis zum Bahnhof. Oder links in die Tailor’s Lane abbiegen und sich bis zu den Lichtern der bevölkerten Brighton Road vorarbeiten. Das ist eine ganz schöne Strecke und ein ziemlicher Umweg, aber dort sind Menschen. Und im Augenblick sehnt sie sich geradezu inständig nach Menschen.
Sie späht in die schlecht beleuchteten Tiefen der Tailor’s Lane und versucht, sich daran zu erinnern, wie es hier bei Tag aussieht. Es ist weniger eine Straße, eher eine modernisierte Gasse: eng, mit einer Biegung in der Mitte. Hundert Meter bis zur Ecke und noch einmal hundert bis zur Hauptstraße. Die Straße hinter ihr ist so still, dass es ihr so vorkommt, als würde sie belauscht.
Dort will sie keinesfalls hinaufgehen. Der Gedanke, in die Dunkelheit einzutauchen, behagt ihr aber ebenso wenig. Eine Reihe ehemaliger Stallgebäude, die man zu Geschäftshäusern umgebaut hat– wenn man die schäbigen Ladenlokale überhaupt so nennen kann: unbekannte Untiefen, die nur beleuchtet werden, wenn die Läden geöffnet haben. Weil es überwiegend nur nackte Hausfassaden und Müllcontainer gibt, ist auch die Straße nur spärlich beleuchtet. Sie kann die Laterne an der Ecke sehen und noch einen kleinen Lichtkegel der einzigen Laterne auf der Straße selbst, aber es sind alte viktorianische Leuchten, die noch nicht einmal mit Elektrizität betrieben werden. Und zwischen ihnen tiefer, abscheulicher Schatten.
Da könnte alles Mögliche lauern, denkt Kirsty. Irgendjemand.
Schon, aber… wenigstens weißt du, was dich am anderen Ende erwartet. Die Fore Street führt dich einen halben Kilometer durchs Unbekannte, keine weiteren Querstraßen mehr nach dieser. Dort kannst du nur vor oder zurück, was in beiden Fällen eine verdammt lange Strecke ist. Hier sind es zweihundert Meter, Kirsty. Dafür brauchst du keine zwei Minuten. Geh einfach selbstbewusst los, schau nicht nach rechts und links und starre nicht in die Schatten. Denk nicht darüber nach, was in diesen Gassen lauern könnte. Geh einfach weiter, und mach einen selbstsicheren Eindruck.
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