Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
und bemerkt die aufeinandergepressten Lippen nicht, mit denen diese Mitteilung aufgenommen wird. Jede Familie hat ihren eigenen Moralkodex, und so hält Jade verschiedene Väter für unmoralisch. Ihrem Vater rutscht zwar hin und wieder die Hand aus, aber er ist nie fremdgegangen. Allerdings ist ihr nie die Frage in den Sinn gekommen, wer sich mit einem Schweinebauern einlassen würde, der seine Jacke mit Paketschnur zusammenhält.
Unter dem bedrohlichen Blick steinerner Löwen gehen sie an der hohen Mauer entlang und sehen das Haus vor sich liegen.
» Wie viele Leute wohnen in dem Haus?«, fragt Jade.
» Wir sind zu viert. Und Ramona. Die wohnt im Apartment«, antwortet Bel und zeigt auf den Stallkomplex rechts von ihr. Es handelt sich dabei um eine Miniausgabe des Haupthauses aus rotem Ziegel, unmittelbar unterhalb der hohen, geriffelten und funktionslosen Zierkamine. Ein Anflug von Verlegenheit überkommt sie, als sie dies sagt. Und hofft, dass Jade sie nicht nach der schamlosen Zurschaustellung von Überfluss beurteilt. Sie ist froh, dass die Autos in der Garage sind. Geht davon aus, das Jade keinen Range Rover, Porsche oder Golf GTI in ihrer eigenen Kiesauffahrt stehen hat.
» Vornehm«, sagt Jade und geht auf die Eingangstür zu.
» Hier entlang.« Bel biegt um die Hausecke.
» Du gehst nicht vorne rein?«
» Das macht auf dem Land keiner«, sagt Bel, ihren Eltern nachplappernd, und errötet. » N-nein, ich gehe immer hinten rein.«
Jade zuckt die Achseln und folgt ihr. Sie mag den Anblick der Vorderseite ohnehin nicht: Die Fensterläden auf der gesamten Fassade sind geschlossen, die toten Augen des Hauses starren blicklos auf den leeren Vorplatz. Sie folgt Bel über einen feuchten Seitenpfad. Nachdem sie gefühlte zehn Minuten durch feuchtes Blattwerk gelaufen sind, gelangen sie an den Dienstboteneingang.
Bel legt die Hand auf den großen Türgriff aus Messing und drückt. Die Tür rührt sich nicht.
» Scheiße«, sagt sie.
» Was ist?«
» Abgeschlossen.«
» Wir schließen nie ab«, verkündet Jade. Bei ihnen gibt es nichts zu stehlen. Und überhaupt, die Hunde würden einen Eindringling schon vertreiben, bevor er auch nur dreihundert Meter ans Haus herangekommen wäre. Und wenn nicht, würde ihr Lärm Ben Walker mit seiner Zwölfkaliberkanone aus den Schweineställen rufen, noch bevor der Betreffende auch nur die Wäscheleinen erreicht hätte.
Bel versucht es noch einmal vergeblich mit der Tür und läuft dann weiter in Richtung Stallhof. Jade zockelt geduldig hinterher. » Wer ist Romina?«
» Mirandas Kindermädchen. Sie soll auch auf mich ein Auge haben. Los, komm! Wahrscheinlich ist sie im Apartment.«
Sie führt sie zur Allee zurück und durch den großen Eingangsbogen des Stallhofs. Hier ist es still und schattig. An den Stalltüren tauchen zwei freche, neugierige Köpfe auf, einer rot-, der andere kastanienbraun, und beobachten, wie sie die großen Steinplatten überqueren. Bel begrüßt sie und erhält von dem Rotbraunen ein freundliches Wiehern zur Antwort. » Trigger und Missy«, stellt sie vor.
Jade geht zu ihnen und hält ihnen eine Hand zum Beschnuppern hin. Spürt sanfte, samtige Lippen über ihre Haut streichen und warmen, feuchten Atem auf den Fingern.
» Das ist Trigger«, erklärt Bel.
» Hallo, Trigger«, sagt Jade und streichelt die Nüstern des Pferdes, während sie sich umsieht. Es ist ein weitläufiger Stallhof, einer, der ursprünglich für Kutschen gedacht war. Eine elegant geschwungene Tür, die genauso verziert ist wie der Glockenturmbogen, unter dem sie gerade hindurchgekommen sind, führt in eine Scheune. Komisch, denkt sie. Ich habe dieses Haus immer für richtig alt gehalten, dabei sieht es funkelnagelneu aus. Hier ist nichts fehl am Platz.
Sämtliche Türen, bis auf die beiden oberen Hälften der genutzten Boxen, sind verriegelt und verrammelt. An der Außenwand der Sattelkammer prangt, unübersehbar in ihrer türkisfarbenen Lackierung, eine Alarmanlage. Seltsam, denkt Jade. Ich meine, man würde doch mit einer Schubkarre oder ein paar Heunetzen oder irgendwelchen Geräte zum Ausmisten rechnen. Aber der ganze Ort wirkt wie desinfiziert, als ob hier nie etwas passiert, das ihn dreckig machen könnte. Es wirkt, als hätte jemand eine Flasche Domestos genommen und alles mit der Zahnbürste abgeschrubbt.
Trigger, der merkt, dass Jade keinen Leckerbissen für ihn hat, knabbert an ihren Fingerknöcheln. Sie zieht die Hand weg und drückt sein Maul mit der Faust
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