Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Warum sollte sich jemand in einer Straße verstecken, die niemand entlanggeht? Nur zwei Minuten, dann bist du wieder unter Menschen.
Sie läuft los. Der Straßenbelag ist uneben, Müllfahrzeuge haben dem Asphalt zugesetzt, und er wurde vernachlässigt, weil dies keine allgemeine Verbindungsstraße ist. Bis sie die ehemaligen Stallungen erreicht, hat sie sich zweimal fast den Knöchel verstaucht. Die Schlüssel entziehen sich immer noch ihrem Griff und lenken sie von der Umgebung ab; die Schlüsselkette hat sich um etwas anderes herumgewickelt, und der Anhänger rutscht ihr immer wieder aus den Fingern, wenn sie daran zieht. Sie möchte sich nur ungern weiter in diese Finsternis wagen, ohne das tröstliche scharfe Metall an den Fingern zu spüren.
» Scheiße«, entfährt es ihr laut, und sie bleibt stehen.
Irgendwo im Dunkeln hinter ihr verhallt das Geräusch eines Schrittes.
Angst durchfährt sie wie ein Messerstich. Jede Faser ihres Körpers ist angespannt, ihr Rücken an die Wand gepresst, bevor ihr bewusst wird, dass sie sich bewegt hat. Unbeweglich steht sie da, horcht und starrt mit aufgerissenen Augen angestrengt auf das Wegstück, das sie schon zurückgelegt hat.
Nichts.
Gegen die Lichter der Fore Street zeichnen sich die Müllcontainer schemenhaft ab wie kauernde Drachen. Sie kann unmöglich wissen, was sich in den Schatten verbirgt. Sie weiß nur, dass sie weitergehen muss. Weiter hinein ins Ungewisse.
Sie zwingt sich dazu, bedächtig und stetig weiterzugehen, obwohl sie weiche Knie hat und ihre Hände zittern. Sie klemmt die Schlüssel zwischen die Finger und umklammert mit der Handfläche den Ring, der sie zusammenhält. Als Waffe wird der Schlüsselbund wenig ausrichten, aber vielleicht kann sie einen Angreifer damit zumindest erschrecken. Die Schlüssel können Spuren im Gesicht hinterlassen. DNA auf ihren gezackten Bärten…
Herrgott noch mal, hör auf! Schmiede keine Pläne, wie du der Polizei nach deinem eigenen Ableben noch helfen willst.
Jegliches Außengeräusch wird durch das Rauschen ihres Bluts und das Zischen ihres Atems ausgeblendet. Ihr Herz fühlt sich an wie ein wütendes Raubtier und scheint ihr fast den Brustkorb zu sprengen. Atme. Atme und geh weiter.
Sie zählt ihre Schritte, konzentriert sich auf ein gleichmäßiges Tempo, darauf, ihr Gleichgewicht zu halten und nach außen gelassen und kontrolliert zu wirken. Wenn er nicht weiß, dass sie ihn gehört hat, kann sie vielleicht ein paar Meter Vorsprung gewinnen. Atme. Atme. Ein Schritt, dann noch einer. Die Laterne an der Ecke tanzt vor ihren Augen, um sie herum nichts als Schwärze.
Hinter ihr tritt jemand gegen eine leere Büchse. Kickt sie scheppernd über das Pflaster, näher, als sie vermutet hat.
Kirsty rennt. Hört ein Geräusch– halb Stöhnen, halb Schrei– aus ihrer Kehle dringen, bleibt mit einem Absatz in einem Schlagloch hängen, taumelt und knallt mit der Schulter gegen die Hauswand, rennt weiter. Schwere Fußtritte nähern sich ihr rasend schnell, ihr Verfolger hat keinen Grund mehr, sich zu verstecken, ein Platschen, als er in eine Pfütze tritt, und ein nasses Klatschen wie von einem Taucher, als er auf der anderen Seite wieder herauskommt.
Je näher er kommt, desto größer wird er in ihrer Vorstellung. Hat sich vom kleinen Rattenmann in ein Ungeheuer von mindestens einem Meter neunzig mit Zähnen aus Rasierklingen verwandelt. Ihre Tasche ist tonnenschwer und schlägt ihr bei jedem Schritt gegen ihr Gesäß. Sie überlegt, sie einfach wegzuwerfen, entscheidet sich aber dagegen. Nein, sollte sie das Erste sein, das er erreichen kann, wird er danach greifen, und das wird mir ein paar wertvolle Sekunden Vorsprung verschaffen.
Hilfe, betet ihr Verstand. Bitte helft mir.
Ihr Schwung lässt sie an der Ecke vorbeirennen, und als sie abrupt wendet, prallt sie an der gegenüberliegenden Hauswand ab. Während sie sich wieder fängt, holt der Mann hinter ihr noch weiter auf. Jetzt kann sie ihn atmen hören: schwer, aber nicht mühsam. Nicht so gehetzt wie sie selbst. Noch mehr Abfallbehälter, überall türmen sich Pappkartons und Holzpaletten, und die Lichter der Brighton Road sind immer noch eine Million Meilen weit entfernt. Wenn er mich dahinterzerrt, kann mich von der Straße aus kein Mensch sehen…
Finger streifen die Tasche, ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt. Kirsty keucht, kann noch eine letzte Geschwindigkeitsreserve mobilisieren und rennt wie der Teufel. Lieber Gott, bitte hilf mir. Soll ich
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