Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
in einem Blumenbeet auf und spürt unter ihren Füßen das Abknicken stattlicher Stauden. Unmöglich, über den Tennyson Way zu entkommen. Ihr einziger Ausweg führt über den Coleridge Close.
14 UHR 30
Mit einem Plumps lässt Bel sich auf der Treppenstufe vor der Tür nieder. Am liebsten hätte sie geheult, aber Jade sieht aus, als würde sie gleich in die Luft gehen, und sie will sie nicht noch mehr reizen. Chloe spielt mit dem Verschluss ihres Anoraks und streckt die Unterlippe vor. Irgendwie hat sie Dreck ins Gesicht bekommen und sieht aus, als wäre sie durch einen Kamin gerutscht. Bel ist schweißnass. Der Hunger geht inzwischen allmählich in Schwäche über. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte, denkt sie. Ich will mich bloß noch hinlegen und schlafen.
» Und warum hast du nicht gesagt, dass keiner da ist?«, fragt Jade.
» Meine Mama ist nach Chippy gefahren«, sagt Chloe, als sei das eine Antwort. » Zu den Geschäften.«
» Zum Teufel noch mal!«, flucht Jade.
» Ich hab gedacht, Debbie wär hier«, erklärt Chloe.
» Natürlich ist die nicht hier«, bemerkt Jade in vernichtendem Tonfall.
» Wo ist sie denn hin?«, fragt Bel. Sie weiß, dass sie manchmal ein bisschen schwer von Begriff ist, doch sogar sie hat mitbekommen, dass Debbie sich mit Darren Walker davonmachen wollte, als sie sie an der Bank zufällig trafen. Es erscheint ihr logisch, dass sie hierhergekommen sind, um Sex in ihrem Schlafzimmer zu haben, schließlich weiß jeder, dass dies der Ort ist, an dem man Sex macht. » Sie ist nicht vielleicht zu euch nach Hause gegangen?«, fragt sie zweifelnd.
Jade bricht in hämisches Gelächter aus. » Nein, sie ist zum Scheiß-Buckingham-Palast auf eine Gartenparty gegangen.«
» In einer Lederjacke?«, meint Bel ungläubig.
Jade sieht den Ausdruck auf ihrem Gesicht und lacht wieder. Allmählich hält sie Bel für leicht beschränkt. Drei ihrer Witze hat sie schon nicht kapiert. » Sche-erz. Aber ich kann dir garantieren, dass sie nicht bei uns ist.«
Chloe beginnt wieder zu wimmern. Die beiden älteren Mädchen verdrehen die Augen. » Fang bloß nicht schon wieder an«, sagt Jade. » Wir können doch auch nichts dran ändern.«
So schnell, wie sie begonnen hat, so schnell hört Chloe wieder auf und schnieft. Sie hat eine Idee. » Der Fluss«, sagt sie. Ihre Mutter nimmt sie nie mit dorthin. Erst zwei Mal ist sie da gewesen. Für Chloe ist der Fluss genauso magisch und unwiderstehlich wie Disneyland. Wenn sie schon kein Mittagessen kriegt, dann will sie wenigstens planschen.
» Der Fluss?« Jade ist misstrauisch.
» Sie ist zum Fluss gegangen.«
» Und wozu?«
» Baden.«
» Und wieso hat sie dich nicht mitgenommen?«
Chloe kommen schon wieder die Tränen.
» Na schön. Also gut. Wir bringen dich zum Fluss«, erklärt Jade und verdreht erneut die Augen. » Ich bring Darren um. Ich mach ihn kalt.«
» Du machst Witze«, meint Bel.
» Was?«
» Das müssen drei Kilometer sein.«
» Also schön. Hast du vielleicht eine bessere Idee?«
» Ich …« Verzweifelt sieht Bel sich in der menschenleeren Sackgasse um. » Wann kommt deine Mutter denn wieder?«
Chloe zuckt die Achseln. Sie hat keine Ahnung; und überhaupt ein sehr geringes Zeitverständnis. » In ganz vielen Stunden«, behauptet sie. Tatsächlich steht ihre Mutter in diesem Augenblick an der Bushaltestelle in Chipping Norton und wird in fünfunddreißig Minuten wieder zu Hause sein. Aber Chloe hat keine Vorstellung davon, was Zeit ist. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, die Uhr zu lesen. Sie weiß nur das eine: Wenn ihre Mutter mit dem Bus nach Hause kommt, ist die Mittagszeit meist lang schon vorbei. Und da sie heute kein Mittagessen bekommen hat, muss es ja noch viele Stunden dauern. Außerdem ruft der Fluss mit seinen plätschernden Tiefen und unkrautbewachsenen Planschbecken, den Picknicks, Lutschern und Getränken, die die Leute in Kühlboxen mitnehmen und manchmal etwas davon abgeben. Sie ist erst einmal mit dem Auto da gewesen. Hat weder eine Vorstellung, wie weit drei Kilometer zu Fuß sind, noch wie lange es bis zum Mittagessen ist. » Viele Stunden«, wiederholt sie und wartet.
» Und deine Schwester ist auf jeden Fall dort?«
» Klar«, sagt Chloe im Brustton der Überzeugung.
» Wir gehen über die Felder«, bestimmt Jade.
» Über die Felder? Aber da gibt es doch gar keinen Weg, oder?«, fragt Bel.
» Ach, das geht prima«, meint Jade. » Jetzt lass dich mal nicht so hängen.«
KAPITEL
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