Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Nein«, sagt Blessed. Die Verbindung wird unterbrochen, und sie ist allein in der Dunkelheit.
Hier kann sie nicht bleiben. Sie wischt sich die Augen und kriecht in die Nacht hinaus. Die Straße ist menschenleer. Aus der Ferne hört sie das Wummern der Bässe auf der Nachtclubmeile, das Johlen der Whitmouth-Urlauber, die, von der Angst in ihrer Mitte nichts ahnend, ihre Befreiung von der tödlichen Bedrohung feiern. Ihr Fuß pocht, trägt aber ihr Gewicht. Sie setzt sich in Bewegung, nimmt die Straße Richtung Stadt, weicht den Lichtkegeln der Laternen aus und macht an Ecken halt, um die Straße vor sich gründlich zu betrachten. Es gibt nur einen Ort, an den sie vorstellen kann zu gehen.
Sie braucht eine volle Stunde. Am Tag, in Sicherheit und unverletzt, dauert es nur halb so lang, obwohl der Weg die A-Road entlang so hässlich ist, dass sie ihn gewöhnlich nur dann nimmt, wenn die Busse nicht fahren. Sie zieht die Kapuze hoch und stülpt sie sich über, sieht auf ihre Füße, während sie weiterhumpelt und hofft, dass die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos sie nicht lange genug anstrahlen, dass man sie erkennt. An der Strandpromenade kommt sie nur noch im Schneckentempo voran. Sobald sich eine Gestalt zeigt, sucht sie Deckung in Hauseingängen und tut so, als interessiere sie sich für Schaufensterauslagen und Werbeschilder. Die Stadt ist rappelvoll, doch sie fühlt sich nackt und exponiert: der einzige Mensch, der vollständig bekleidet, nüchtern und ganz alleine ist. Eine Gruppe junger betrunkener Kerle umrunden sie lachend und schneiden ihr mit schlappen Lippen Grimassen.
» Aaallles klaaaa, Oma!«
Sie fährt zusammen, ihr Herz hämmert, sie erkennen sie jedoch nicht. Natürlich nicht. Es sind keine Einheimischen, sondern stammen dem Dialekt nach aus Yorkshire oder Lancashire, außerdem haben sie den ganzen Abend lang getrunken und nicht das Internet nach Sondermeldungen abgesucht. Inmitten dieser sorglosen Jugendlichen ist sie wahrscheinlich genauso sicher wie überall. Und trotzdem…
Irgendwo müssen sie sein. Ihre Nachbarn sind ganz gewiss nicht nach Hause gegangen. Dafür sind sie viel zu aufgekratzt, zu begeistert, viel zu ergriffen von rechtschaffener Wut. Sie pirschen durch die Stadt, überwachen das Polizeirevier, warten darauf, dass sie sich rührt. Es ist nirgendwo sicher, nicht wirklich. Doch zumindest kennt sie da einen Ort mit Toren, Schlössern und einem Sicherheitsdienst, auch wenn diese weniger dem Schutz der Menschen, sondern dem wertvoller Vermögenswerte und der Einnahmen aus Ticketverkäufen dienen.
Sie sieht die Leuchttafel vor sich: Die grellen Lichter sind zwar ausgeschaltet, der Personaleingang ist jedoch noch hell und einladend. Funnland. Der Ort, der einem Zuhause, das sie verlassen hat, am nächsten kommt. Die Drehkreuze sind längst verriegelt, die Ticketschalter in Dunkelheit getaucht. Sie fühlt sich, als schlüge ihr alles über dem Kopf zusammen. Eine Woche war sie krank und nicht hier gewesen, und die Einzige, die irgendein Interesse an ihrem Wohl gezeigt hat, ist Blessed. Und auch wenn Blessed inzwischen eindeutig fertig mit ihr ist, ist dies doch der einzige Zufluchtsort, den sie sich vorstellen kann. Wenn sie tatsächlich da sein sollte, würde Blessed sie bestimmt nicht abweisen.
Noch einhundert Meter. Die Menschenmenge auf dem Bürgersteig hat sich gelichtet, denn sobald der Vergnügungspark geschlossen hat, gibt es in diesem Abschnitt wenig, was Teenagern Spaß macht. Instinktiv zupft Amber an den Bändern ihrer Kapuze und zieht sie sich übers Kinn. Lässt die Welt nichts von sich sehen außer ängstlich aufgerissenen Augen.
Sie gelangt an die Personalpforte. Tastet in ihrer Tasche nach der Magnetkarte und ist unendlich erleichtert, als ihre Finger sich sicher um sie schließen. Jason Murphy sitzt lesend hinter dem Fenster des Wachbüros. Sieht nicht auf. Gut.
Sie zieht die Karte durch das Lesegerät. Es gibt ein hohles, dumpfes Brummen von sich. Sie drückt gegen die Pforte, und stellt fest, dass sie immer noch verschlossen ist. Sie flucht murmelnd und zieht die Karte noch einmal durch. Das gleiche Geräusch. Kein Piepsen für den Einlass, kein tröstliches Aufschnappen des Schlosses, kein Quietschen der sich öffnenden Türangeln. Sie ist ausgesperrt.
Sie spürt Blicke, die sich in ihren Rücken bohren und sieht auf. Jetzt hat sie Jasons volle Aufmerksamkeit. Die Hand aufs Kinn gestützt und mit einem schwachen Lächeln um die Mundwinkel sitzt er da und
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