Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Jedenfalls hofft sie das. Muss es hoffen. Sie kann nirgendwo anders hin.
Sie erreicht den Zug und zwängt sich durch eine kreisrunde Öffnung, die für einen Sechsjährigen gedacht war. Bleibt hängen, steckt kurz fest und quetscht sich schließlich hindurch in die Dunkelheit. Luken werfen etwas Licht an die Decke über ihrem Kopf, hier unten am Boden jedoch ist es beruhigend finster– und an all das, was hier unten außer ihr noch kreucht und fleucht, versucht sie im Augenblick einfach nicht zu denken.
Sie kommen mit dem selbstbewussten Schritt der Massen die Straße entlang und schlagen im Vorübergehen auf das Blattwerk ein. Sie hört, wie sie am Törchen stehenbleiben. Ein Feuerzeug geht an, und sie riecht Zigarettenrauch, der durch die Nachtluft weht.
» Scheiße«, sagt eine Stimme. Sie gehört dem Mann, der sich an ihrem Tor zu schaffen gemacht hat. » Wo ist sie abgeblieben? Sie hat doch wohl nicht wieder kehrtgemacht?«
Eine Frau erwidert etwas darauf, der Klang dieser weiblichen Stimme ist noch furchterregender, weil er so unerwartet kommt. Es ist Janelle Boxter, Shaunaghs Freundin, die ein paar Häuser weiter wohnt. Amber sieht sie vor sich: plump, untersetzt und ein Gesicht, das zu ihrem Vornamen passt. » Zu wenig Zeit. Sie ist hier lang. Eine von denen da lang. Sie hat nicht die Zeit gehabt, um bis ans Ende zu kommen.«
Jemand schwingt das Törchen auf. Das Knirschen von Stiefeln auf Kies. Sie weiß, dass ihr Versteck mit Blicken gescannt wird, und hält die Luft an, als könnten Atemwölkchen in die hochsommerliche Nachtluft entweichen. Der Beton, auf dem sie liegt, ist feucht, überall türmen sich Erd- und Blätterhaufen. Es riecht nach Körperflüssigkeiten.
» Wir könnten den Hund holen.«
» Nee. Bis dahin ist sie weg.«
Eine Armlänge von ihrem Kopf entfernt zischt ein länglicher Gegenstand– ein Baseballschläger? eine Gerüststange?– durchs Gestrüpp. Amber macht sich steif und drückt sich noch weiter in die Dunkelheit.
» Scheiße«, sagt der erste Mann, und irgendetwas trifft die Holzwand. Sie macht sich noch kleiner und beißt sich auf die Lippe.
» Glaubt ihr, sie ist wieder nach Hause?« Seine Stimme ist jetzt etwas leiser, er entfernt sich. » Hier entlang, stimmt’s?«
Die andern schließen sich ihm an. Sie hört, wie das Törchen über den Kies schabt, und das Klappern des zerbrochenen Riegels. » Nee«, meint irgendwer. » Wisst ihr, wo sie hin ist? Zur Schweinefarm.«
» Na, da wollen wir mal hoffen, die behalten sie gleich da.«
Jemand erhebt die Stimme. » Annabel!« Allgemeines Gelächter. » Komm raus, komm raus, wo immer du bist!«
Wieder lachen alle, die Stimmen werden zunehmend leiser. » Ich fass es nicht. Du? Verdammt noch mal. Die ganze Zeit war die mitten unter uns. Armes kleines Ding. Wisst ihr noch? Alles verschrammt. Und mit Blutergüssen übersät. Knochenbrüche. Diese verfluchten kleinen Sadistinnen.«
» Irgendwer sollte ihr mal zeigen, wie so was ist.«
» Ist es zu fassen? Noch mal diese ganze Rose-West-Kacke. Ich hab Kinder, Herrgott noch mal! Die könnten…«
» Lasst uns zur Polizei gehen. Sie ist ja vielleicht noch nicht bis dahin gekommen… Sollen wir uns aufteilen?«
» Dann los. Wenn wir die Autos nehmen, können wir sie da unten stellen.«
» Spinn nicht rum. Es wimmelt überall nur so von Polizei.«
Ein Lachen. » Da wär ich mir nicht so sicher. Mein Vetter Ray hat heute Dienst. Die sind stinksauer. Glaub mir. Wenn irgendwer ein Auge zudrückt, dann die…«
Die Stimmen verklingen in der Ferne. Amber setzt sich auf und lehnt sich gegen die schwammige Wand. Ein stechender Schmerz durchfährt ihren Fuß. In der Dunkelheit taucht das Bild von Mary-Kate und Ashley, ihren süßen Lieblingen und Gefährtinnen, wieder vor ihr auf, und raubt ihr den Atem. Sie schlingt die Arme um sich und weint.
Sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie darf sich nicht vom Tageslicht überraschen lassen, die Dunkelheit ist ihr einziger Schutz. Sie wartet eine scheinbar endlose Zeit ab, bevor sie es wagt, ihr Handy zu benutzen, aus Angst, jemand könnte sie hören oder das Licht vom Display könnte ihren Standort verraten. Dann ruft sie Blessed an, weil ihr etwas anderes nicht mehr einfällt.
Sie zählt mit. Sechs Mal klingelt es, dann meldet sich Blesseds schlaftrunkene Stimme. Sie muss über den Auftragsbüchern eingeschlafen sein. Das passiert Amber ständig.
» Blessed, ich bin’s.«
» Wer?«
» Ich, Amber. Hier ist Amber, Blessed.«
»
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