Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Wir-haben-die-Nacht-überstanden-Aufwachen, das ihr die Kraft zum Weitermachen gibt. Ich muss tiefer geschlafen haben, als ich dachte, geht ihr träge durch den Kopf, während sie mitzählt, wie oft es am andern Ende klingelt. Ich habe nie bemerkt, dass sie nachts aufstehen und auf die Pirsch gehen.
Beim zwölften Läuten ertönt eine Stimme in der Leitung: gleichgültig und unbeteiligt für jemanden, dessen Job es ist, mitten in der Nacht Anrufe entgegenzunehmen. » Polizeirevier Whitmouth?«
» Hier spricht Amber Gordon«, sagt sie leise, als könnten die Menschen draußen sie durch Holz und Stein hindurch hören.
Er scheint den Namen nicht zu erkennen. » Victor Cantrells…«, souffliert sie.
» Ah, hallo«, sagt er, allerdings nicht sonderlich freundlich.
» Vor meinem Haus ist jemand. Ein Fenster wurde eingeworfen.«
» Okay«, erwidert er, klingt jedoch nicht übermäßig besorgt. » Einen Augenblick, bitte.«
Amber geht wieder auf den Flur zurück und horcht. Da draußen sind eindeutig Menschen. Sie sind bewusst leise– sie hört eine flüsternde Stimme und eine weitere, die sie zum Schweigen bringt–, aber sie kann ihre Anwesenheit spüren– nicht nur die von Menschen, sondern die einer ganzen Meute. Jetzt glaubt sie, den metallischen Klang der Klinke vom Gartentor zu hören, die jemand versuchsweise drückt. Sie spannt sich an und fragt sich, ob der Riegel wohl halten wird. Er ist nur ein schwacher Schutz, wie sie weiß. Sowohl Tor als auch Zaun würden unter ein paar Tritten nachgeben. Sie kann nur darauf hoffen, dass die da draußen wissen, dass es eine Grenze gibt, die man nicht übertreten darf, eine Grenze, die aus Protest Hausfriedensbruch macht.
Obwohl sie das auch nicht von Sachbeschädigung abgehalten hat. Es kann nicht mehr lange dauern, bis irgendwer entscheidet, dass nach dem schon erfolgten Einbruch der nächste logische Schritt das Eindringen ins Haus ist.
» Mrs Gordon?«
Ihr Herz macht einen Satz. Fast hatte sie vergessen, worauf sie wartet.
» Wir schicken Ihnen einen Wagen rüber. Der müsste so in zwanzig Minuten da sein.«
Zwanzig Minuten? Da bin ich vielleicht schon tot. » Könnten die nicht früher kommen? Was ist denn aus dem Jungen geworden, der vor meiner Tür stand?«
» Beschränkte Mittel«, erwidert er. » Vielleicht möchten Sie das ja mit dem Innenminister abklären?«
Wie viel soll ich denn noch ertragen? Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
» Wenn Sie wollen«, sagt er, » könnten die Kollegen sie herbringen.«
» Wozu denn?«
» Wir haben Sie den ganzen Abend über angerufen. Möglicherweise möchten Sie Schutzhaft in Erwägung ziehen. Vorläufig. Liegt ganz bei Ihnen.«
Zellen und Riegel und Korridore, das Echo der Schritte auf dem gestrichenen Betonboden, das lange, triste Warten auf die kurzen Höhepunkte der faden Mahlzeiten. Einzelhaft ohne Menschenrechte. Die erdrückende Erinnerung an Schuld, und Vic drei Zellen weiter. Sie zuckt zusammen, wie in einem Traum, in dem man in den Abgrund fällt. Gefängniszellen für Sie und Ihn: Partner in allem.
» Warum?«, fragt sie. » Es muss doch eine andere– irgendwo anders. Es kann doch nicht um die Wahl zwischen hier und einer Zelle gehen…«
» Wie ich schon sagte, es liegt bei Ihnen. Aber es wäre vielleicht das Beste«, meint er und fügt bedeutungsvoll hinzu: » Unter den gegebenen Umständen.«
» Den gegebenen Umständen.« Ein wirklich hübsche Art, es auszudrücken. » Könnte ich nicht… Gäbe es nicht irgendwo etwas anderes? Ich… Sie können doch nicht allen Ernstes von mir erwarten… Könnten Sie mir nicht ein Hotel oder so besorgen?«
» Na ja, Mrs Gordon«, erwidert er und betont den Namen so, dass er nicht mehr nur eine einfache Anrede, sondern eine Beleidigung darstellt, die sie nicht versteht, » dies ist die einzige Möglichkeit, wie wir unter den gegebenen Umständen für Ihre Sicherheit garantieren können. Wir haben Sie angerufen. Sie sind nicht ans Telefon gegangen. Im Übrigen bezweifle ich sehr, dass es ein Hotel gibt, das gerüstet wäre, sie aufzunehmen.«
» Gestern konnten Sie auch schon nicht für meine Sicherheit garantieren«, begehrt sie auf. » Warum sind Sie auf einmal so…«
» Ach«, meint er. » Sie wissen es noch nicht?«
Unruhe beschleicht sie. » Was weiß ich noch nicht?«
» Sie wissen, wer Sie sind, Mrs Gordon. Die Zeitungen.«
Ihr Mund wird staubtrocken. » Wer ich bin…?
» Annabel Oldacre«, sagt er und fügt hämisch hinzu: » Aber Ihnen
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